VON JAMES MORGAN PRYSE (1859-1942)
(Übertragung aus dem Englischen: Heinz Knotek)
Wörtlich bedeutet ἀποκάλυψις „Enthüllen“ oder „Entschleiern“ . Doch die in ihr Jäckchen gehüllte Isis konnte kaum sicherer vor profanen Blicken geschützt werden als die Bedeutung der Apokalypse es ist. Kaum ein zweites ebenso undurchdringlich verhülltes Buch lässt sich in der Literatur finden. Und doch ist die Apokalypse nicht nur der Schlüssel zum Neuen Testament. Sie ist darüber hinaus der Schlüssel zur Gnôsis schlechthin. Das Buch mag herkömmlichen Gelehrten schwer zugänglich erscheinen. Dagegen sind selbst für Neulinge der heiligen Wissenschaft intellektuelle Durchdringung, Scharfsinnigkeit der Ausführung und Gelehrsamkeit des Buches offenkundig. Für Schriftgelehrte ist die Apokalypse deswegen so unbegreiflich, weil der darin behandelte Gegenstand, zu den Mysterien (esoterische Lehre) der frühen christlichen Gemeinschaft gehört und deswegen in einer symbolischen Sprache verhüllt wurde, deren allgemeine Offenlegung den Satzungen der Gemeinschaft widersprach.
Gnôsis – heiligen Wissenschaft und wissenschaftliche Methode höheres Wissen zu erwerben
Die Geheimhaltung der heiligen Wissenschaft war ein eherner Grundsatz, vor allem um sie vor dem Zugriff der moralisch Unwürdigen zu bewahren, denn die Kräfte die ihr Besitz verleihen kann, würde für sie selbstzerstörerisch und für ihre Mitmenschen verletzend wirken. Jedoch kann das für den Verfasser der Apokalypse, Iôannês, kaum der Hauptgrund für die gewählte Art der Darstellung gewesen sein, denn vieles, was in ihr vermittelt wird, war bereits völlig offen und detailliert in den Abhandlungen Platos (mit welchem der Verfasser offenbar vertraut war) und anderer griechischer Initiierter, aber auch in buddhistischen und brahmanischen Schriften zu finden.
Außerdem – obwohl die Apokalypse detailliert die spirituellen und psychischen Kräfte des Menschen behandelt, gibt sie nirgends auch nur einen Hinweis, wie sich diese Kräfte aktivieren lassen. Vielmehr deutet Iôannês im einführenden Teil an, dass das Buch als Anleitung für jene ohne esoterische Unterweisung bestimmt ist, die diese Kräfte allein durch die Reinheit ihres Wesens und Intensität ihres Strebens nach einem spirituellen Leben in sich als erwacht vorfinden werden.
Er gab also offenbar ein anderes Motiv, Zuflucht zu Symbolen und raffinierten Rätseln zu nehmen, die Profane jahrhundertelang verwirren sollten. Das wahre Motiv ist jedoch unschwer auszumachen: Wenn der Autor das Buch in einer allzu klaren Sprache verfasst hätte, wäre es zweifellos vernichtet worden, und hätte gewiss niemals einen Platz – ausgerechnet – im christlichen Kanon gefunden. Aus dem abschließenden Teil seines Evangeliums geht klar hervor, dass Iôannês, der große Seher und Initiierte, sogar das Schicksal der christlichen Kirche und den Verlust ihrer esoterischen Lehren eindeutig vorausgesehen hat. Es ist daher wohl gerechtfertigt anzunehmen, dass er die Apokalypse allein deswegen schrieb, um die darin enthaltene Lehre innerhalb der christlichen Aufzeichnungen bewahrt zu wissen.
Spirituelle und psychische Kräfte des Menschen
Zu diesem Zweck hat Iôannês die Apokalypse akribisch unter den außergewöhnlichsten Symbolen verborgen und zusätzlich mit Hilfe eines numerischen Schlüssels und mittels Gleichnisrätseln codiert. Schließlich beendete er das Buch mit einer furchteinflößenden Verwünschung gegen jeden, der beabsichtigt, etwas hinzuzufügen oder zu entfernen – eine Vorsorge die zweifellos geholfen hat, den Text vor der Verstümmelung zu bewahren. Nachdem er somit das Buch auf geniale – und in der ganzen Literatur einzigartigen – Weise präpariert hatte, vertraute er es der exoterischen Kirche zur Bewahrung an, überzeugt, dass die Exoteriker es in ihrer Unwissenheit sorgsam bis zu dem Tage hüten würden, an dem die Zeit für seine Erklärung reif sein würde.
Wenn das seine Absicht war (wovon der Übersetzer, also Pryse, fest überzeugt ist), dann ist die Gegenwart – mit ihrer modernen Bibelkritik, die nicht nur die Anfechtbarkeit und Unhaltbarkeit der ehrwürdigen theologischen Strukturen gezeigt, sondern darüber hinaus den Fortbestand dieser Strukturen grundsätzlich in Frage gestellt hat, dann ist jetzt wohl die vorgesehene und passende Zeit gekommen, die Siegel der Apokalypse zu öffnen und den wahren Inhalt des Buches bekanntzumachen1.
Auf dieses Weise ist es Iôannês, „der Zeugnis ablegt vom Logos Gottes, und Zeugnis ablegt vom Gesalbten Iêsous“, der damit Zeugnis ablegt von den esoterischen Weisheitslehren, die nicht nur dem Christentum sondern allen alten Religionen zugrunde liegen. Durch lange Jahrhunderte hindurch hat die offiziell rechtgläubige Kirche dieses ungewöhnliche Buch – das doch gerade auf die Aufhebung aller starren Rechtgläubigkeit abzielt – als Teil der heiligen Schriften gehütet; einen Platz den es zurecht verdient, denn es ist das Meisterstück von Iôannês, dem Seher und Heiligen.
Was ist „Iêsous der Christos“ wirklich
Die Forschung ist sich darüber einig, dass die Apokalypse von derselben Hand abstammt, die auch das vierte Evangelium niedergeschrieben hat. Obgleich das darin verwendete Griechisch gegenüber dem im Evangelium verwendeten weniger perfekt ist, ist der Unterschied lediglich auf die komplexere und kunstvollere Komposition der Apokalypse zurückzuführen. Beide Bücher offenbaren dieselben unnachahmlichen mentalen Züge und denselben unmissverständlichen literarischen Stil. Was nun enthält dieses angeblich so okkulte Buch, die Apokalypse, an Außergewöhnlichem?
- Es gibt die esoterische Interpretation des Christos-Mythos.
- Es erzählt was „Iêsous der Christos“ wirklich ist.
- Es erklärt die Natur der „alten Schlange, die der Teufel und Satan ist“.
- Es verwirft die lästerliche Vorstellung eines anthropomorphen Gottes und
- es weist mit einer erhebenden Bildersprache auf den wahren und einzigen Pfad zum Ewigen Leben.
Es gibt somit insgesamt den Schlüssel zu der göttlichen Gnôsis, welche in allen Zeiten nicht nur dieselbe war, sondern auch über allen Glaubensbekenntnissen und Philosophien thront. Diese geheime Wissenschaft ist dabei aber nur deswegen „geheim“, weil sie im innersten Wesen jedes Menschen selbst verborgen und verschlossen ist – wie unwissend und einfach ein Mensch auch immer sein möge – und niemand außer ihm selbst kann den Schlüssel herumdrehen. Aufgrund ihres Wesens ist es unmöglich die Gnôsis selbst jemals zu „offenbaren“, denn sie gehört in das Reich des spirituellen Daseins und liegt jenseits des Bereiches simpler Verstandes- und Denktätigkeit, die sich niemals höher als bis zum philosophischen Spekulieren hinaufschwingen kann. Der Schlüssel zur Gnôsis – die wissenschaftliche Methode höheres Wissen zu erwerben – kann jedem zum Besitz werden, der intuitiv fähig ist, dessen Wert angemessen zu würdigen und in seiner eigenen Lebenspraxis anzuwenden. (wird fortgesetzt)
- Geschrieben um 1910. Wie wir heute wissen, hat das Öffnen der Siegel nicht den von Pryse erhofften gesellschaftlichen Wandel erbracht. Ganz im Gegenteil, nur wenige Jahre später sollte Europa und die Welt erst in die Dunkelheit zweier Weltkriege, dann in die politische Hitze des kalten Krieges gleiten, um sich am Ende scheinbar machtlos in einem globalen Flächenbrand nationalistisch und religiös motivierter Kriege involviert zu sehen. Zugleich ist der Lauf der Geschichte seit 1910 eine einzige Metapher dafür, dass Erlösung und Befreiung in der Welt sich endlos wandelnder Formen NICHT möglich ist, was aber genau der Botschaft der entschleierten Apokalypse entspricht. ↩
Zuletzt aktualisiert: 05.10.2013 von Heinz Knotek