Serie: Yoga-Aphorismen, Sure I.30 bis 33 (kommentiert von W. Q. Judge)
Mit einem Tablet an der Bushaltestelle stehen, selbstvergessen mit großen Augen wie ein Kind immer aufs Neue die Sendervielfalt zu bestaunen und dabei vor lauter Staunen den vorgefahrenen Bus zu übersehen – und stehen zu bleiben, das gilt als hip oder soll als hip gelten. Sonst würde ein Anbieter von TV-Streaming-Diensten nicht viel Geld für eine solche Werbung ausgeben. Der Werbeclip ist aber auch für den Sucher auf dem Pfad ein einprägsames Sinnbild. Der mit Bildern dauernd berieselte Mensch bleibt stehen, verpasst den Anschluss selbst dann, wenn er unmittelbar davor steht. Es ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass die eigene Fähigkeit zur Abstraktion verkümmert, wenn man anstatt selbst zu abstrahieren vorgefertigte Abstraktionen konsumiert. In den Yoga-Aphorismen des Patanjali bieten vor allem die Suren 30 bis 33 des ersten Buches Hinweise zum Schutz vor diesen Stolpersteinen.
Yoga Aphorisms of Patanjali: Sure I.30 bis 33.
Übertragung aus dem Englischen: Heinz Knotek1
30.
Wer nach einer konzentrierten Lebenshaltung strebt, kann auf seinem Weg mit folgenden Stolpersteinen rechnen: Kränklichkeit, Mattheit, Zweifel, Achtlosigkeit, Trägheit, Sucht nach Sinnesreizen, selektive Wahrnehmung, Verlust an Abstraktionsfähighkeit, Wechselhaftigkeit.
The obstacles in the way of him who desires to attain concentration are Sickness, Languor, Doubt, Carelessness, Laziness, Addiction to objects of sense, Erroneous Perception, Failure to attain any stage of abstraction, and Instability in any stage when attained.
31.
Diese Stolpersteine machen sich durch emotionale und mentale Zustände bemerkbar, die geprägt sind von Kummer, Verzweiflung, innerer Unruhe, Klagen.
These obstacles are accompanied by grief, distress, trembling, and sighing.
32.
Den Symptomen kann man vorbeugen, in dem man sich mental auf fundierte Wahrheiten ausrichtet.
For the prevention of these, one truth should be dwelt upon.
W. Q. Judge: Any accepted truth which one approves is here meant.
33.
Den in I.30 und 31 beschriebenen Zuständen lässt sich durch eine Läuterung des Denkvermögens begegnen. Die dazu erforderliche Praxis ist geprägt von: Gutmütigkeit; Sanftheit; Genügsamkeit; weitgehende Immunität gegenüber Objekten die Begehrlichkeiten wecken, Kummer auslösen und Gefühle von Tugend- oder Lasterhaftigkeit erzeugen.
Through the practising of Benevolence, Tenderness, Complacency, and Disregard for objects of happiness, grief, virtue, and vice, the mind becomes purified.
W. Q. Judge: Begierden und Abneigungen aller Art sind wesentlich für die Ablenkung des Denkvermögens verantwortlich. Der Aphorismus will aber den Leser nicht etwa dazu auffordern Tugenden und Lastern gegenüber gleichgültig zu bleiben. Gemeint ist, dass sich das Denken weder freudvoll auf Tugendhaftigkeit noch angwidert auf das Gegenteil fixieren soll. Alles ist mit einem gleichmütigen Denkvermögen zu betrachten. Die Praxis von Gutmütigkeit, Sanftheit, Genügsamkeit bringt dabei eine heitere Gelassenheit hervor, was wiederum der inneren Stärke und Festigkeit zugutekommt.
The chief occasions for distraction of the mind are Covetousness and Aversion, and what the aphorism means is, not that virtue and vice should be viewed with indifference by the student, but that he should not fix his mind with pleasure upon happiness or virtue, nor with aversion upon grief or vice, in others, but should regard all with an equal mind; and the practice of Benevolence, Tenderness, and Complacency brings about cheerfulness of the mind, which tends to strength and steadiness.
HEINZ KNOTEK
- Quelle: The Yoga Aphorisms of Patanjali, an interpretation by William Q. Judge, Los Angeles, 1987 ↩
Zuletzt aktualisiert: 06.07.2014 von Heinz Knotek