Eine Erzählung
Beim dritten Mal schrieb ich mir das Kennzeichen auf. Ab dann, wann immer der alte Polo sich näherte – immer zu dieser Zeit an dieser Stelle, fast jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit – drosselte ich die Geschwindigkeit, fuhr möglichst rechts. Und wurde jedes Mal zorniger, schmiedete Angriffspläne.
Bluthundes des Karmas – nicht einlassen, wenn es nicht sein muss.
Bild: Ko-Sen
Schließlich wurde mein Leben bedroht. Und vermutlich auch das jedes anderen Autofahrers, dem der Typ auf den engen waldigen Straßen entgegen fuhr. Reine Menschenliebe wäre es also, auf mein Recht zu bestehen, dass die Gefährdung meiner Person unterbleibt und bei der Polizei eine Anzeige zu erstatten.
Gegen den Typen eine Anzeige erstatten
Beim ersten Mal war es nur ein kurzer Schreck. Ein dunkler alter Polo näherte sich auf der Gegenfahrbahn mit hoher Geschwindigkeit. Seine linken Räder deutlich auf der Gegenspur. Wie sich das Fahrzeug schnell nähert – keine Anzeichen, die Geschwindigkeit zu drosseln oder rechts zu fahren. Also – um eine Kollision zu vermeiden – das Lenkrad nach rechts reißen, dabei mit den rechten Reifen über den zerklüfteten Straßenrand holpern. Noch schnell wütend auf die Hupe drücken, als das Fahrzeug vorbei schießt.
Zwei Tage später das gleiche Spiel. Diesmal Blickkontakt zum Fahrer. Klischeehafter geht es nicht. Einer dieser jungen Männer, um die 20, mit tief über die Ohren gezogener Wollmütze, dunkler Straßenkleidung, Gesichtsausdruck ausdruckslos, indifferent, zynisch, so scheint es – so muss sich geben, wer cool wirken will, aber es eigentlich nicht ist. Zumindest suggerieren das die Medien. Wie sich zeigt, kreuzen sich unsere Wege nun fast täglich. Zwei- oder dreimal schieße ich ihm die Lichthupe entgegen. Doch das bewirkt NICHTS. Unbeirrt fährt er aggressiv und bedrohlich halb links. Der Junge ist entweder ein ahnungsloser Fahranfänger, dem das Rechtsfahrgebot, das er sicher in der Fahrschule lernen musste, irgendwie aus dem Gedächtnis entwichen ist. Oder er ist ein Kleinkrimineller, der Angriff und Zerstörung provoziert. Gewissenlos, rücksichtslos, menschenverachtend. Ich neige dazu, in ihm letzteres zu sehen.
Nach etwa zwei Wochen wird mir mit Schrecken bewusst, dass der Typ zum festen Begleiter meines morgendlichen Daseins geworden ist. Ich beginne schon beim Losfahren zu kalkulieren, ob ich ihm wieder dort im Wald begegnen werde. Ich erwarte ihn also schon. Verfehlen wir uns, bin ich spürbar erleichtert. Kommt er wieder angerast, füllt sich mein Auto mit einer Flut von Kraftausdrücken, von denen „Penner“ noch harmlos ist. Schließlich beschließe ich zur Polizei zu gehen. Den Fall zu schildern und gegen den Typen eine Anzeige zu erstatten.
Unter dem Blickwinkel des Karmagesetzes
Drei Wochen etwa dauerte es, bis plötzlich der Gedanke aufsteigt, alles einmal „buddhistisch“ zu betrachten. Also unter dem Blickwinkel des Karmagesetzes. Am Anfang war doch alles so schön. Die Waldstrasse, die ich als Schleichweg entdeckt hatte, war um die Zeit so gut wie unbefahren. Auf dem Weg zur Arbeit ließ sich so Zeit und Geld sparen. Und nun aus heiterem Himmel diese unausweichliche Störung, diese immer wiederkehrende Bedrohung. Es kam zu einer Art „Spaltung.“ Da war einmal das Ego, die Persönlichkeit am Steuer. Ihr anfänglicher Ärger hatte sich schleichend in brennenden Hass verwandelt. Das Ego fühlte sich berufen, dem Spuk entgegenzutreten, etwa durch das Erstatten einer Strafanzeige. Aus Sicht unserer bürgerlichen Ordnung ein legitimer Entschluss.
Doch wie steht es aus karmischer Sicht? Hier begann das Gewissen oder das HÖHERE SELBST oder wie immer man ES bezeichnen mag, unhörbar zu sprechen:
Du willst also eine Anzeige erstatten. Nun, das ist dein gutes Recht – als MENSCH. Doch ist es das auch als SEELE? Du weißt selbst, dass die allmorgendliche Begegnung kein Zufall ist. Irgend etwas hast du einst in Gang gesetzt, das nun – da die Zeit dafür reif ist – auf dich zurück kommt. Unabhängig davon – durch diese nur wenige Augenblicke dauernde Begegnung verwandelst du dich jeden Morgen in ein hassendes feindseliges Wesen. Du bist voll von Anhaftungen. Dein Mind ist auch noch nach einer Stunde von dunklen Rachegedanken erfüllt. Dein Fühlen, Denken und Tun wird durch DEINE Wut geprägt. Doch das bist DU, nicht dieser Fremde.
Noch ist das Band zu diesem Jungen nur ein virtuelles. Noch klopft die Vergangenheit nur an deine Tür. Bisher konntest du einer Kollision erfolgreich ausweichen. Du weißt nicht wie er heißt. Du würdest ihn noch nicht einmal erkennen, würde er dir irgendwo sonst über den Weg laufen. Du kennst nicht seine Augenfarbe, und auch nicht die Stimme, den Geruch. Was immer euch verbindet, es ist NOCH lediglich POTENTIAL.
Im Buddha-Dharma wird ausdrücklich vor der Haltung des ERGREIFENS gewarnt. Unsere Persönlichkeit ist ohne Unterlass am ERGREIFEN. Das, was gefällt, wird ergriffen, um es an uns zu ziehen und festzuhalten. Das, was uns missfällt, wird auch ergriffen, um es abzuweisen, auszuschalten oder gar zu zerstören. Auf der zwischenmenschlichen Ebene werden so karmische Bindungen festgezurrt. Auf der globalen Ebene werden so Allianzen geschlossen und Kriege entfacht. Das ist die treibende Kraft, die das karmische Rad der Wiedergeburt am flotten Rotieren hält.
Denke darüber nach…
Die innere Stimme hatte Recht. Das musste ich zugeben. Wenn mein Gang zur Polizei auch rechtens und moralisch vertretbar wäre, würde ich damit zu diesem Menschen ein mehr als nur virtuelles Band knüpfen. Mit unabsehbareren Folgen. Tatsächlich würde ich den Bluthunden des Karmas freiwillig ein Tor aufstoßen. Es könnte gut ausgehen. Aber genau so gut könnte erst dann etwas ins materielle Dasein einbrechen, das bislang nur als schlafender Samen auf „Erweckung“ wartet. Und es gibt keine Zweifel: WAS immer „erwachen“ könnte, es wäre nichts Gutes zu erwarten.
Je nach Sicht- und Handlungsweise – wird ein Bluthund des Karmas zu einem harmlosen Dorfköter… Bild: Ko-Sen
Von da ab, wurde die morgendliche Fahrt zu einer Meditationsübung. Das Ego sträubt sich zwar noch ein wenig, will etwas TUN. Doch das lässt nach. Das SELBST hingegen freut sich über die gewonnene tägliche Gelegenheit, das Ego im bewussten LOSLASSEN trainieren zu dürfen.
Ich fahre jetzt wieder ganz normal zur Arbeit. Wie sich zeigt, kommen mir regelmäßig eine Handvoll Fahrzeuge entgegen. Offenbar auf dem Weg zur Arbeit wie ich. Nur in entgegen gesetzter Richtung. Gelegentlich ist ein Fahrer darunter, mit einer etwas merkwürdigen Fahrweise… Zur Polizei zu gehen gibt es keinen Grund mehr. Manchmal scheint es, ich höre in der Ferne ein Rudel Hunde enttäuscht heulen.
(Ko-Sen)
Zuletzt aktualisiert: 30.03.2008 von Heinz Knotek