Kein aufgeklärter Deutscher käme heute auf die Idee, etwa das im Zuge des Zweiten Weltkriegs verlorene Königsberg zurück haben zu wollen. Für die noch lebenden Königsberger mag die nach dem Prinzip Teile und Herrsche beschlossene Grenzziehung eine schmerzliche Wunde bleiben. Für die politische Realität des XXI. Jahrhunderts ist und bleibt Königsberg ein irreversibles historisches Relikt. Ähnliches gilt für das Sudetenland oder ehemalige deutsche Gebiete in Polen.
Lamas at the Rumtek monastery in Sikkim. Bild: Creative Commons/Amar, May 2005
Merkwürdig nur, dass viele dieser aufgeklärten Menschen, wenn es um den Tibet-Konflikt in China geht, plötzlich für rechtmäßig halten, was sie im Falle ehemaliger Ostgebiete und der Vertriebenen zu Recht als reaktionär und revanchistisch verurteilen.
Tibet und China sind eins – notgedrungen
Tibet gehört zu China, wie Kaliningrad zu Russland und Karlsbad zu Tschechien gehören. Die Einverleibung Tibets durch China ist aus Sicht der Tibeter ein feindseliger Akt. Das ist verständlich. Genau so, wie es für den gebürtigen alten Ostpreußen ein feindseliger Akt war, als Kind mit der Familie von den Russen vertrieben worden zu sein. Doch wann immer das Tabu der Unantastbarkeit der im Zuge des Zweiten Weltkrieges entstandenen staatlichen Grenzen gebrochen wurde, ergaben sich blutige Kriegsherde, von denen letztlich bisher kein einziger wirklich vollkommen erloschen ist, wie man auf dem Balkan oder auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion sehen kann. Es war daher weise – und es wäre noch immer so – die Grenzen weiterhin als Tabu zu behandeln – auch wenn diese einst willkürlich und mit fragwürdigen Motiven beschlossen wurden – und stattdessen die Völker auf EINHEIT einzuschwören. Die EU ist ein nicht ganz erfolgloser Versuch in diese Richtung.
China ist ein Konglomerat aus hunderten von Völkern und Volksgruppen. Alle früheren chinesischen Reiche sind immer sofort untergegangen und in sich bekriegende Provinzen und Fürstentümer zerfallen, wenn die zentrale Staatsmacht zu schwächeln begann. Auch aufgrund dieser historischen Erfahrung kann China gar nicht anders, als kompromisslos auf den Erhalt des Status quo seines Staatsgebildes zu bestehen. Auch nur einer Volksgruppe die staatliche Unabhängigkeit zu gewähren, würde binnen kurzer Zeit lawinenartig separatistische Aktivitäten auslösen. China würde im Chaos versinken und im Zuge dessen auch Tibet von Krieg und Elend überzogen werden. Siehe die Ereignisse in Zuge des Untergangs der U.d.S.S.R. nach dem Machtantritt von Gorbatschow.
Es war daher eine weise Entscheidung des Dalai Lama, den Anspruch auf staatliche Unabhängigkeit Tibets – nach europäischem Maßstab eigentlich eine revanchistische Forderung – fallen zu lassen. Notgedrungen muss auch dem Dalai Lama und den Tibetern die staatliche Integrität Chinas am Herzen liegen. Wer im Stillen meint, wie im Kosovo, durch laute Schreie nach Unabhängigkeit erst geheime Waffenlieferungen, dann eine Intervention von NATO und US-Armee heraufbeschwören zu können, übersieht einen entscheidenden Unterschied: China ist nicht Serbien. Wer in Zentralasien mit dem Feuer des Separatismus spielt, greift eine wirtschaftlich starke und militärisch hochgerüstete Weltmacht an. Und riskiert damit einen Weltkrieg und eine nukleare Katastrophe. Bei der übrigens auffällig EINE Weltmacht relativ weit weg vom Schuss und politisch sowie wirtschaftlich sogar Nutznießer wäre: DIE USA.
Gewalt und Gegengewalt – Ursache und Wirkung
Wenn in Deutschland junge Leute unerlaubt zu einer Demo aufmarschieren, löst das massiv repressive Gegenmaßnahmen seitens der Sicherheitskräfte aus. Wenn die Demonstranten auch noch unbescholtene Passanten tätlich angreifen und beginnen Polizeiautos anzuzünden, wird es auch in unserer Demokratie brenzlig. Zumindest wird man versuchen, die Demonstranten mit Wasserwerfern und Gummigeschossen zurückzudrängen. Sollte im Getümmel ein Beamter der Bundespolizei eingeschlossen werden und sein Leben bedroht sehen, ist der Einsatz der scharfen Dienstpistole zur Selbstverteidigung nicht ausgeschlossen. Warum aber soll den chinesischen Sicherheitskräften dasselbe Recht abgesprochen werden, einen – in dem Fall tibetischen – Mob vom Randalieren abzuhalten und sich selbst zu verteidigen?
Selbst die heimlich aufgenommenen – also nicht unter Verdacht staatlicher Manipulation stehenden – Videomitschnitte, zeigen vor allem randalierende Männer, die mutwillig und wahllos Autos zertrümmern, Häuser anstecken und wehrlose Flüchtende blutig schlagen – wenn nicht Schlimmeres. Das kennen wir in Deutschland von den Krawallen zum 1. Mai in Kreuzberg und neuerdings von den Videos aus der Münchener U-Bahn. Nach unserem Rechtsverständnis handelt es sich dabei um kriminelle Handlungen. Da verwundert es, dass im Falle Chinas erneut genau gegenteilig gewertet wird. Nicht die Randalierer werden ermahnt oder verurteilt, sondern die eingreifenden Sicherheitskräfte. Ursache und Wirkung – damit einfach umgedreht.
Doch obwohl auf dem ersten Blick der chinesische Staat scheinbar lediglich auf legitime Weise für „Recht und Ordnung“ in den tibetischen Gebieten sorgt, löst der massive militärische Aufmarsch dennoch berechtigte Sorge aus. Es ist noch in trauriger Erinnerung, wohin 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking die Herstellung von „Recht und Ordnung“ führte. Das brutale Vorgehen des Militärs geschah vor aller Welt. Was mag passieren, wenn die Weltöffentlichkeit ausgeschlossen ist, wie jetzt in Tibet?
Buddhismus ist kompromisslose Ablehnung von Gewalt
Fast mochte man annehmen oder hoffen, die in buddhistischen Roben gekleideten Männer auf den Videos, die Türen eintreten und mit Stöcken auf Wehrlose einschlagen, sind verkleidete Provokateure des chinesischen Geheimdienstes. Dem ist offenbar nicht so. Wenn unter den Marodeuren tatsächlich buddhistische Mönche waren, haben sie heiligste Gelübde und Gebote gebrochen. Und das auch noch in „Uniform.“ Ein Sakrileg. Um die Würde und den altruistischen Ruf des Buddhismus zu schützen, bleibt den buddhistischen religiösen Führern Tibets nichts anderes übrig, als die Täter streng zur Rechenschaft zu ziehen. Auch mit Blick auf die eigene Glaubwürdigkeit – spirituell und politisch – wären hier deutliche Worte von deeskalierender Wirkung. Dazu gehört auch, sich bei den Opfern zu entschuldigen. Auf dem EDLEN ACHTFACHEN PFAD Buddhas ist kein Platz für Separatismus, Gewalt und Krieg. Auch nicht im Namen einer gerechten Sache:
Der Edle Achtfache Pfad
(Frei nach Pali-Kanon)
- Rechte Erkenntnis
Erkenntnis der Vier Edlen Wahrheiten und der Vier Verkehrten Ansichten.
- Rechtes Denken
Entsagung von weltlichen Verstrickungen, zum Wohlwollen gegenüber allen Lebewesen und zur Nichtbeschädigung aller Erscheinungen.
- Rechte Rede
Abstand nehmen von Lüge, Klatsch, Schmähung und Geschwätz. Der Wert der Sprache liegt darin, Menschen zu heilsamen Taten zu bewegen.
- Rechtes Handeln
Verbietet das Töten aller Wesen, das Nehmen ungegebener Gegenstände und Ausschweifungen.
- Rechte Lebensführung
Ausüben von Berufen und Tätigkeiten, die keinem anderen Leid zufügen.
- Rechtes Streben
Führt zur Abwehr unheilsamer und zur Erzeugung heilsamer Geistesinhalte. Die Kontrolle der Sinneswahrnehmungen verhindert ein Anklammern an den Erscheinungen der äußeren Welt. Wer diesen Pfad begeht, zeigt keine emotionale Reaktion auf äußere Reize.
- Rechte Achtsamkeit
Die rechte Achtsamkeit macht alle Verrichtungen – bis hin zu so selbstverständlichen Tätigkeiten wie Atmen oder Liegen – bewusst. Die Achtsamkeit auch beim Denken und bei Sinnesempfindungen kontrolliert den Geist und erhält die Disziplin.
- Rechte Versenkung
System der Meditation und Kontemplation. Erlösende Erkenntnis. Der Meditierende erkennt, dass die konventionelle Vorstellung des Ich ein Trug ist. Dadurch befreit er sich von den Fesseln des eigenen Ich und somit auch vom Durst nach dem Werden. Er ist frei und erlöst.
Bei ihrem Streben nach kultureller und religiöser Autonomie verdienen die Tibeter und der Dalai Lama alle nur mögliche Unterstützung… Die Welt darf auch nicht tatenlos der Unterdrückung der tibetischen Kultur durch die chinesischen Machthaber zusehen… Und mit Nachdruck muss dem ungerechtfertigten Einsatz militärischer Gewalt widersprochen werden … Allerdings im Rahmen des EDLEN ACHTFACHEN PFADES. Auch wenn es schwer fällt.
Aktuelles zum Weiterlesen:
Süddeutsche Zeitung: Im Tempel der Bedrängten
Zuletzt aktualisiert: 25.03.2008 von Heinz Knotek