Als Thomas Mann kurz nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes von Zürich aus über die heutige Autobahn A8 mit dem Auto nach München fuhr, empfand er vereinfacht ausgedrückt Ekel. Die vielen Hakenkreuzfahnen hatten sich in der „Hauptstadt der Bewegung“ scheinbar in Luft aufgelöst. Versuchte er mit den in den Trümmern des „Tausendjährigen Reiches“ ums Überleben kämpfenden Deutschen in einen Dialg darüber zu kommen, wie das alles hat passieren können, bekam er wiederholt sinngemäß zur Antwort: der Führer wars. Schon früh erkannten die Menschen intuitiv die Chance, wie man sich eine weiße Weste zulegen konnte: die im Namen des Führers begangenen Gräuel dem Führer zuschieben und ansonsten sich eisern darauf berufen, von allem nichts gewusst zu haben.
Sind dann auch die von der Merkel-Administration irre?
Wenn man das Interview mit Gellermann verfolgt, muss man sich wundern, wie einfach sich die Situation in Deutschland 2015 beschreiben lässt: Die Merkel-Administration gibt sich ganz offensichtlich mit Irren ab. Daraus formuliert Gellermann den sich von selbst aufdrängenden Rückschluss: Sind dann auch die von der Merkel-Administration irre. Einer möglichen Verleumdungsklage sieht er gelassen entgegen. Gellermann vertraut der Logik seiner Argumentation, wonach sinngemäß eins und eins eben zwei sein muss.
2013, das Jahr der letzten Bundestagswahl, und 1933, das Jahr der nationalsozialistischen Machtübernahme 80 Jahre zuvor kann man natürlich nicht vergleichen. Es fällt jedoch auf, dass in beiden Fällen deutsche Wähler eine Situation schufen, die es einer einzelnen Person und der von ihr repräsentierten Partei erlaubten, unanfechtbar von einer parlamentarischen Opposition zu regieren. Was aber auch nicht ganz stimmt. Denn ohne die freiwillige Selbstübergabe der SPD an die Merkel-Administration durch deren Partei-Eliten wäre 2013 die autokratisch anmutende Bundesregierung nicht zustande gekommen. Die von ihren Parteiführern betriebene „CDUisierung“ der SPD war jedoch allgemein ersichtlich und das Ergebnis, eine große Koalition, demnach zu erwarten. Stimmt also doch.
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— Lars Winter (@LarsWinter_) 8. August 2015
Nun soll es eine vierte Ausgabe der Merkel-Administration geben. Umfragen zufolge kann dieses Mal mit einer absoluten Mehrheit der Merkel-Wahlpartei CDU gerechnet werden. Aber wieso das denn? Können die Deutschen nicht mehr eins und eins zusammenzählen, also zwei erkennen oder das was Gellermann als „Irrsinn“ diagnostiziert? Ganz sicher gab es 1933 Deutsche, die insgeheim fassungslos den Kopf schüttelten, dass ihre Landsleute frenetisch einen doch ganz klar als irre erkennbaren „Führer“ nicht nur wählten, sondern sich von ihm bis in den Tod zu allen möglichen Gräueltaten verleiten ließen. War es aber womöglich eher umgekehrt? War der Irrsinn ein zum Aufbrechen gereifter Samen im Schoß der damaligen deutschen Zivilgesellschaft und Hitler lediglich Werkzeug eines zur Verkörperung drängenden kollektiven Irrsinns? Dann aber wars eben nicht der Führer, sondern wir Deutschen waren es.
Nicht DIE ist irre. Wir sind es
Knüpft man diese logische Kette weiter bis ins hier und jetzt, dann muss Gellermanns Aussage widersprochen werden. Nicht DIE ist irre. Wir sind es. Der von Gellermann „da oben“ diagnostizierte Irrsinn ist die Verkörperung eines von Irrsinn geprägten Alltags – „hier unten“. Schauen wir uns an und um. Gleichen wir dabei nicht oft dem Patienten des Steinschneiders im Bild von Hieronymus Bosch? Die Steinschneiders von heute öffnen via iCloud, Social Media, Konsum und Dauerunterhaltung unsere Schädel, um uns Ansichten einzutrichtern, die aus uns Rindviecher machen, die Werbung für den Schlachthof betreiben. Wer feinfühlig ist spürt – das kann alles nicht gut enden. Da ist die Versuchung groß, zunächst mitzumachen und dieses Mal schon vorab einem „Führer“ die Verantwortung zuzuschieben. Ob wir damit durchkommen? HEINZ KNOTEK
Linksunten: „Merkel ist irre“
Zuletzt aktualisiert: 02.12.2024 von Heinz Knotek