Bahnhof Lhasa, 3.650 Höhenmeter,
etwa vier Stunden täglich geöffnet
(Foto: Pixelio.de)
Seit gut einem Jahr kann man mit dem Zug nach Lhasa fahren. Zwei extra aus den USA importierte schwere Loks zerren jeden einzelnen „Höhenzug aus Stahl“ (Süddeutsche Zeitung) über teilweise 5000 Meter in die Höhe. In den Zeitungen und im TV finden sich immer wieder Berichte. Sie beschreiben einerseits die technische Meisterleistung der Bahnstrecke. Und warnen zugleich vor der Gefahr zunehmender Besiedlung des tibetischen Hochlandes durch Han-Chinesen. Als Folge könnten die Tibeter bald exotische Fremde im eigenen Land werden.
In ihrer Ausgabe vom 5. Juli hat die Süddeutsche Zeitung einen Reisebericht zur höchstgelegenen Bahn der Welt gedruckt. Solche Berichte ähneln sich meist. Schon deshalb, weil kein Journalist OHNE staatliche Aufsicht reisen darf. Dennoch kann man aus dieser mehr oder weniger formatisierten Berichterstattung – sozusagen zwischen den Zeilen – Sequenzen der ungebrochenen Spiritualität der Tibeter erkennen. Sequenzen, die den zumeist pathologisch ichzentrierten Westler beschämen können.
Laien vor dem Jokhang-Tempel in Lhasa (Foto: Pixelio.de)
Wenn sich unserem Alltag etwas auch nur ansatzweise ins Unangenehme zu wenden beginnt, richten wir auf der Stelle all unsere Kraft darauf, die Umstände so hinzubiegen, dass „es“ wieder angenehm wird. Ganz zu schweigen davon, wenn sich bedrohliche Krankheiten einstellen. Da mag man Jahrzehnte lang über Karma und Reinkarnation debattiert haben. Wenn es aber ernst wird, und uns an den Kragen geht, dann spielt das keine Rolle mehr. NICHTS, was wir dann nicht unversucht lassen. Und sei es, um ein paar Wochen zusätzliches schmerzhaftes physisches Leben zu ergattern. Wenn es ernst wird, bleibt die Seele auf der Strecke. Das Ego reißt brutal die Macht an sich.
Was, wenn die Tibeter eine solche Lebenshaltung hätten? Sie würden den Potala zum Einkaufzentrum umgebaut haben und – wenn es gehen würde – zu Han-Chinesen konvertieren. Stattdessen:
Am 15. Tag des vierten Monats des tibetischen Modkalenders waren wir schließlich in Lhasa. Ausgerechnet an dem Tag, an dem Buddha Geburtstag hatte. Zehntausende tibetische Pilger bevölkerten die Straßen, die Tempel waren überfüllt, in anderen Ländern hätte es nur eines kleinen Funkens bedurft, diese Menschenmassen zu einem Aufruhr anzustacheln. Doch die Menschen hier folgten einem vorgezeichneten Weg, unbeirrt, gelassen, voller Ausdauer und Würde. Es war faszinierend, diese Gläubigen zu sehen auf ihren entbehrungsreichen Wegen…
Später wird noch der chinesische Bewacher des Reportes zitiert, als in einem unerwarteten Moment dessen Ego-Panzer durchlässig wird:
„Heute,“ sagt er lächelnd, „glaube ich an die Wiedergeburt.“
Übrigens: In ihrem als SF klassifizierten Roman MÄRCHENLAND GONDWANA lässt die Autorin, Maria Szepes, die Protagonisten sich in einem abgelegenen tibetischen Hochtal wieder verkörpern. Ihre vorherigen „Gewänder“ hatten sie bewusst ablegen müssen. Ausbrechende Kataklysmen einer in Krieg, Krankheit und Irrsinn versinkenen Zivilisation ließen keine andere Wahl.
(w)
Zitat: Süddeutsche Zeitung, 5. Juli 2007