Visionen über die Welt – im Mittel-
alter nichts Besonderes. Hier von
Athanasius Kircher (1602-1680).
Abb. gemeinfrei
Hildegard von Bingen, eine adlige Benediktinernonne aus dem 12. Jahrhundert wurde von Papst Benedikt dem XVI. zur Kirchenlehrerin erklärt. Ob sich die zahlreichen – vornehmlich weiblichen – Anhänger der unter der Marke HILDEGARD propagierten Heilslehre jetzt wie nach einer „feindlichen Übernahme“ fühlen? Die nachträgliche Beförderung der seit 833 Jahren toten Nonnen innerhalb der „virtuellen“ Kirchenhierarchie durch den Papst ist jedenfalls ein cleverer Versuch, um drei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Zum einen, um esoterisch geneigte Katholiken stärker an die Kirche zu binden, um öffentlichkeitswirksam dem zunehmenden Imageverlust der Kirche etwas entgegenzusetzen und schließlich um – in Zeiten der Diskussion um Frauenquoten – die grelle Frauenfeindlichkeit des Kirchendogmas mit einem Hauch Gleichberechtigung abzutönen.
Religiöses Marketing zum Nulltarif
Was ist davon zu halten, wenn derselbe Mann der vor ein paar Jahren allen Ernstes mit heiligem Brimborium die Vorhölle für uneheliche Kinder abgeschafft hat, jetzt gnadenvoll die bei den Kirchenoberen seinerzeit nur widerwillig geduldete „Seherin“ in den Stand einer Kirchenlehrerin befördert? Hildegard hat nichts mehr davon. Planstellen in der Kirchenhierarchie müssen deswegen nicht umbesetzt werden. Der ganze Vorgang ist komplett folgenlos. Religiöses Marketing zum Nulltarif.
Die rein fiktive Anmaßung das obersten Kirchenfürsten, er könne allen Ernstes im Totenreich kraft seines zittrigen Wortes irgendetwas bewirken oder gar „anordnen“ ist nicht der Rede wert. Interessant ist jedoch das neue Licht, das durch das Papst-Verdikt auf Visionen der Benediktinerin geworfen wird, die seit den 1970er Jahren als Heilslehre interpretiert und erfolgreich vermarktet werden.
Hildegard von Bingen war in der Tat eine unerschrockene Kämpferin gegen dumpfe Auswüchse der rein patriarchisch tickenden Kirchenhierarchie. Doch das SYSTEM hat sie nie in Frage gestellt. Schon aus Gründen des Selbsterhaltungstriebes gestaltete sie ihre Visionen dogmakonform. Und bei allem überlieferten sozialen Engagement war die Trennung der Menschen in arm und reich für sie gottgewollt, also nichts gegen das man predigen oder gar vorgehen müsste. Hildegard hat der Kirche ein „menschliches Angesicht“ verliehen ohne das SYSTEM KIRCHE jener Zeit menschlicher zu machen oder machen zu wollen. Das ist auch erkennbar die Absicht des Papstes bei der späten Beförderung der Toten.
Und die „Lehren“ der Hildegard von Bingen? Das Mittealter hat eine lange Reihe von wirklich SEHENDEN hervorgebracht. Während Hildegard sich unter anderen mit masochistischen Kasteiungen in Wahnzustände versetzt hat, vermochten etwa die alchemistischen Seher mittels Intuition und Kontemplation etwas hinter den Schleier der Schöpfung zu SEHEN. Hildegards „Sehen“ war vor allem astraler Natur, also weitgehend erdbezogen. Sie hatte offenbar astralen Zugang zu den subtilen Naturkräften, den „Erdgeistern“. Daher die vielen vermeintlichen Heilhinweise zu Kräutern und Mineralien. Vermischt mit dem blinden Glauben an das Kirchdogma ergaben die Visionen als Ganzes eine Art esoterisch-katholische Heilslehre, die mit dem Aufkommen der New-Age-Welle in den 1970er Jahren viele gutgläubige Anhänger fand. Ob aber die „Dinkelplätzchen nach Hildegard“ nach Übernahme durch den Papst jetzt noch jedem munden? HEINZ KNOTEK
Linksunten:
Süddeutsche Zeitung: Volksheilige, Marke, Kirchenlehrerin
Zuletzt aktualisiert: 14.10.2012 von Heinz Knotek