Serie: Apokalypse – Schlüssel zur Gnosis von JAMES MORAGN PRYSE (1859-1942)
Wenn die Apokalypse um einen herum beginnt, bedrohlich Gestalt anzunehmen, dann bleibt zum Sinnieren über Fragen wie „Wissen oder Weisheit?“ keine Zeit mehr. Wie unvermittelt das Grauen der Barbarei in den Alltag einer Konsum-Zivielgesellschaft westlicher Prägung eindringen kann, hat der Jugoslawien-Krieg in den 1990er Jahren gezeigt. Mit dem Ukraine-Krieg mit seinem Potenzial zum weltweiten Brandherd rückt uns die Barbarei ernneut ein Stück näher. Zeit, sich im Außen für den Frieden einzusetzen, und im Innen auf den Pfad der unsterblichen Seele auszurichten.
Wissen oder Weisheit?
Der entscheidende Punkt, an dem sich das arkane System wesentlich von allen herkömmlichen Denkrichtungen unterscheidet, ist die Art und Weise des Wissenserwerbes. Das wird etwa an Platos Gliederung der vier Seelen-Vermögen mit den jeweils entsprechenden Wissensgraden (Der Staat, VI. 511) deutlich:
DIE SICHTBARE, SINNLICH WAHRNEHMBARE WELT
(δóξα – Meinungen, relatives Wissen)
1. Εìκασíα – Wahrnehmung von Eindrücken
2. Πíστις – Glauben, Vermutungen
DIE INTELLIGIBLE ÜBERSINNLICHE WELT
(γνῶσις, ἐπιστήμη – Weisheit, absolutes Wissen)
3. Διάνοια – philosophische Denken
4. Νόησις – direktes Erkennen
Zur ersten Stufe gehört das weite Feld der induktiven Naturwissenschaften, die vor allem mit Untersuchungen von Phänomenen der äußeren Welt beschäftigt sind. Die zweite Stufe umfasst die exoterischen Religionen und alle Formen blinden Glaubens1. Zusammen bilden die beiden ersten Stufen das „phrenische“ oder das dem Astral-Materiellen zugewandte Denkvermögen. Es beinhaltet das erfassbare Wissen derjenigen, dessen Bewusstsein das Trugbild der materiellen Welt nicht zu transzendieren vermag.
Zur dritten Stufe gehört die theoretische Philosophie, die sich bemüht allein mittels des Verstandes zur ersten Ursache allen Seins vorzudringen. Die vierte Stufe repräsentiert das direkte Erfassen der Wahrheit durch ein luzides Denkvermögen unabhängig von jeder Form gehirnbasierter Denkprozesse. Beide Stufen entsprechen dem noetischen oder höheren Denkvermögen und repräsentieren das Feld jenes Wissens, das für diejenigen offen und zugänglich ist, deren Bewusstsein sich in die Welt der spirituellen Realität zu erheben vermag. An einer Stelle spricht Plato in diesem Zusammenhang von einem prophetischen Zustand oder einer Art Tollheit, hervorgebracht „durch ein Freiwerden von den gewöhnlichen Wegen der Menschen“.
Verstümmelte Aufzeichnungen
angeblicher Offenbarungen
Materialistische Wissenschaftler und Religiöse2 stützen sich ausschließlich auf physische Sinne, psychische Emotionen und intellektuelle Fähigkeiten, so wie es der gegenwärtigen Stufe der menschlichen Evolution entspricht. Während die Wissenschaftler den Wirkungsbereich der Sinne um einiges durch die Entwicklung von Teleskop, Mikroskop und andere mechanische Einrichtungen zu erweitern vermochten3, verlassen sich die Religiösen auf verstümmelte Aufzeichnungen angeblicher Offenbarungen aus einer fernen Vergangenheit.
Anders der Esoteriker4 – er lehnt sich dagegen auf, in den engen Grenzen der Sinne und der Verstandestätigkeit gefangenzubleiben. Er erkennt, dass die gnostische Kraft der Seele von ihrem unvollkommenen Werkzeug, dem Körper, hoffnungslos behindert und verdunkelt wird. Er weiht sich daher der eigenen Selbst-Vervollkommnung durch ein Bemeistern und Nutzbarmachen all jener Kräfte und Vermögen, die in der verborgenen ursprünglichen Essenz in seinem Innersten ruhen; einer Essenz, die zugleich die ursprüngliche Quelle aller Elemente und Kräfte seines gegenwärtiges Daseins, aber auch aller vergangenen und zukünftigen Existenzen, war und ist.
Durch Streben nach einer bewusste Kontrolle über diese verborgenen Potentiale, die zugleich zur Grundlage seiner individuellen Evolution gehören durchschreitet der Esoteriker in einer verhältnismäßig kurzen Zeitspanne den Pfad der zur spirituellen Erleuchtung und Befreiung von der irdischen Knechtschaft führt. Auf dieses Weise eilt er jenem Ziel entgegen, das die, sich lediglich mit kaum spürbarem Tempo entwickelnde, Menschheit als Ganzes, erst nach Äonen Zeiträumen erreichen wird.
Sein Bemühen geht dabei weniger dahin „etwas wissen zu wollen“, als vielmehr „etwas zu werden/zu sein“. Hierin besteht auch die gewaltige Tragweite und Bedeutung der delphischen Widmung „Erkenne Dich Selbst“, welche der Leitgedanke aller wahren Esoterik ist. Dem Esoteriker ist damit klar, dass wahre Selbst-Erkenntnis im höchst möglichen Sinne nur durch Selbst-Entwicklung erreicht werden kann. Diese gründet sich auf einer kritischen Selbstanalyse und entfaltet sich in Richtung der Erweckung jener schöpferischen und belebenden Kräfte, die in seinem innersten Wesen – ähnlich dem Lebenskeim in der Eizelle – im Verborgenen schlummern.
Einmal aktiviert transformieren diese Kräfte seine Natur unwiderruflich in ein göttliches Wesen, verkörpert in einer unsterblichen ätherischen Form von unbeschreiblicher Schönheit. Dieser Prozess transzendenter Selbst-Bezwingung, die Wiedergeburt als spirituelles Wesen, das Entwickeln eines subtil-strahlenden unsterblichen Körpers aus der verborgenen embryonischen Essenz des eigenen Wesen heraus, ist der alleinige Gegenstand der Apokalypse und das großartige Thema des Iêsous-Mythos (wird fortgesetzt).
(Teaser und Übertragung aus dem Englischen: HEINZ KNOTEK)
- Hierzu zählen auch alle Spielarten materialistischer Weltanschauungen, wie Atheismus oder Kommunismus, die obwohl deren Anhänger Religiösität ablehnen, im erkenntnistheoretischen Sinne dennoch Glaubensbekenntisse darstellen. (Redaktion) ↩
- inklusive Atheisten, Kommunisten usw. (Red.) ↩
- Hinzu kommen im 21. Jh. die Errungenschaften der digitalen Revolution. Der Chemie-Nobelpreis 2014 etwa dokumentiert dafür ein beeindruckend Beispiel: Auszeichnung für eine neue Mikroskopie-Ära (Red.) ↩
- Der Begriff des „Esoterikers“ muss hier im Bedeutungszusammenhang mit dem ausgehenden 19. Jh. gesehen werden, als die ESOTERIK als eine Art „Geheimwissenschaft“ verstanden wurde, die sich mit wissenschaftlichen Methoden den astralen Phänomenen jenseits des Materiellen zu nähern versuchte, sich aber gleichzeitig scharf von den Geistersehereihen und dem Tischerücken der Spiritisten abgrenzte. ↩
Zuletzt aktualisiert: 15.02.2015 von Heinz Knotek