Es ist noch einmal gut gegangen. Massiver Polizeieinsatz hat in Großbritannien den randalierenden Mob nach ein paar Tagen fürs Erste zurückdrängen können. Jetzt treten die Mutbürger hervor. Entsetzt über die Verwahrlosung und Verrohung der eigenen Gesellschaft kommen sie zusammen, um aufzuräumen und den Opfern zu helfen. Alles wieder gut? Die Fiebersymptome der Gesellschaft klingen ab. Doch am kranken Zustand hat sich nichts geändert. Die Propagandisten des Neoliberalismus, allen voran Premierminister Cameron, drohen mit Härte und schwelgen in Zusammenhalts-Rhetorik.
Ausgebrannte Fahrzeuge in Tottenham. Foto: Alan Stanton
In ihrem eigentlich als Science Fiction konzipierten Roman Märchenland Gondwana beschreibt die große Dame moderner Esoterik, Mária Szepes, einen Zustand gesellschaftlicher Verwahrlosung und Gewalt als Aspekt eines allgemeinen unaufhaltsamen Reinigungsprozesses der Erde. Noch zu Lebzeiten äußerte Mária immer wieder ihr Entsetzen darüber, dass ihr futuristisches Märchen so schnell Realität zu werden droht.
Einsparungen im Bildungs- und Sozialbereich
ist das eigentlich Kranke und Kaputte
Vor allem die Neoliberalen fühlen sich durch die Krawalle in ihrer Ideologie bestätigt. Doch die Gesellschaft, die Cameron als kaputt und krank bezeichnet ist nur die Kehrseite einer Medaille, die von Gier nach Reichtum und Statussymbolen geprägt ist. Was den wohlhabenden Bankern, Rechtsanwälten und Immobilienspekulanten der Londoner City recht ist, ist den Jugendlichen aus den Notstandsgebieten im Osten Londons nur billig. Die Einsparungen im Bildungs- und Sozialbereich, die soziale Ausgrenzung zum herrschenden Prinzip erhebt, ist das eigentlich Kranke und Kaputte.
Die Massen perspektivloser Jugendlicher im Osten Londons, in Manchester und Birmingham werden von der „upper class“ als eine Art Unkraut betrachtet, das es auf Abstand und in Schach zu halten gilt. Ackerböden, die sich selbst überlassen bleiben, fallen naturgesetzlich dem Unkraut anheim. Mit Unkrautvertilgungsmitteln lässt sich zwar der Wuchs lokal bekämpfen. Doch nur vorübergehend und zu dem Preis eines vergifteten Grundwassers. Kein Elektrozaun und keine Mauer kann verhindern, dass der Wind die Samen des Unkrauts in alle Ecken des Landes trägt.
Im Roman Märchenland Gondwana zieht sich die Upper Class in gesicherte Hochsicherheits-Trakte zurück, um sich vor dem „Unkraut“ der verarmten, randalierenden Masse zu schützen. Das entspricht exakt dem „mind the gap“ der neoliberalen Gesellschaft – die Armen auf Abstand halten. Es ist aber ein antagonistischer Widerspruch, die reichen Spekulanten vor jeder Regulierung zu schützen und gleichzeitig dem Treiben der Perspektivlosen nichts als die Gewalt der Polizeiknüppel entgegenzusetzen. Im Roman geht das Märchenland Gondwana genau daran zugrunde. HEINZ KNOTEK
Zuletzt aktualisiert: 20.08.2011 von Heinz Knotek