Dem Grafen von Saint Germain zugeschrieben.
Es war Nacht. Von dunklen Wolken verhangen warf der Mond nur ein spärliches Licht auf die Lavaklippen, von denen die Solfatare (*) umschlossen wurde. Ein langer Schleier umhüllte meinen Kopf. Die Hände hielten den goldenen Zweig. Ohne Furcht wandte ich mich jenem Ort zu, an dem mir geheißen wurde, die Nacht zu verbringen.
Ich tastete mich über heißen Sand vorwärts und bemerkte, wie dieser nach jedem Schritt unter meinen Füßen nachgab. Über mir zogen sich die Wolken zusammen. Blitze zuckten durch die Nacht und verliehen den Flammen des Vulkans eine blutähnliche Erscheinung. Schließlich war ich am Ziel, fand vor mir einen eisernen Altar, auf dem ich – wie befohlen – den goldenen Zweig niederlegte …
La Très Sainte Trinosophie
Kapitel 2 – Anfang (verkleinert)
Unmittelbar darauf begann die Erde unter mir zu erzittern, zugleich dröhnten Donner von oben herab … Der Vesuv gab den sich wiederholenden Erschütterungen sein Brüllen zur Antwort, seine Lava-Feuer vereinten sich mit den Feuern der herab fahrenden Blitze … Der Chor der Genien erhob sich zum Himmel und ließ die Echos seiner Lobpreisungen des Schöpfers wiederklingen …
Plötzlich ging der geweihte Zweig, den ich zuvor auf den dreieckigen Altar gelegt hatte, in Flammen auf. Dicker Rauch hüllte mich ein, raubte mir jede Sicht. Umfangen von Dunkelheit hatte ich das Empfinden, in eine bodenlose Tiefe zu versinken. Ich weiß nicht, wie lange dieser Zustand andauerte. Als aber die Augen wieder sehen konnten, hielt ich vergebens nach den Dingen Ausschau, die mich soeben noch umgaben. Altar, Vesuv und die Landschaft von Neapel waren meinen Blicken entschwunden. Ich befand mich in einer ausgedehnten Höhle, allein, weit entfernt von der Welt …
In meiner Nähe lag eine lange weiße Robe. Das fein gewebte Material schien aus Leinen zu bestehen. Auf einem granitenen Felsbrocken war eine Art schwarze Tischplatte befestigt. Sie war ganz mit griechischen Worten übersät, die mir den weiteren Weg bezeichneten, dem ich zu folgen hatte. Auf der Platte stand zudem eine Kupferlampe, die ich an mich nahm.
Nachdem ich die weiße Robe übergestreift hatte, betrat ich einen engen Gang, dessen Wände mit schwarzem Marmor ausgekleidet waren … Die Länge des Durchgangs betrug drei Meilen. In dem stillen Gewölbe hallten meine Schritte furchtsam wieder. Schließlich gelangte ich an eine Tür, die sich einer Flucht von Stufen öffnete und die ich herabstieg. Nach einer längeren Wanderung, vermeinte ich vor mir ein wanderndes Licht zu erkennen. Ich schirmte meine Lampe ab und schaute angestrengt zu der von mir entdeckten Erscheinung hin. Sie löste sich auf und verschwand wie ein Schatten.
Ohne das Vergangene zu verurteilen, ohne Zukünftiges zu fürchten ging ich einfach weiter voran. Der Weg wurde zunehmend schwieriger … zog sich ständig zwischen engen Durchgängen hin, die von schwarzen Steinblöcken gebildet wurden … Ich wagte nicht mir auszurechnen, wie lange meine unterirdische Reise schon dauern würde. Schließlich aber, nach einem langen, langen Marsch, kam ich in einer viereckigen Kammer an. In der Mitte jeder der vier Seiten öffnete sich eine Tür von jeweils unterschiedlicher Farbe. Jede der Türen war zudem an einem der Kardinalpunkte positioniert.
Ich war durch die nördliche – schwarze – Tür eingetreten. Die gegenüber liegende war rot. Die nach Osten weisende Tür war von blauer, die ihr gegenüber liegende von blendend weißer Farbe … In der Mitte der Kammer befand sich ein quadratischer Block auf dem ein leuchtender Kristallstern ruhte.
An der Nordseite hing ein Gemälde, das eine bis zur Hüfte nackte Frau zeigte. Ein schwarzes Tuch fiel ihr über die Knie, das von zwei Silberbändern geziert wurde. In der Hand hielt sie eine Rute, die sie gegen die Stirn eines Mannes richtet, der sie über einen Tisch hinweg ansah. Der Tisch, auf dem sich ein Kelch und eine Speerspitze befanden, wurde von nur einem einzelnen Fuß gestützt. Eine Flamme schoss plötzlich von unten hervor und schien sich gegen den Mann zu richten. Eine Inschrift erläuterte die auf dem Bild dargestellte Szenerie. Eine weitere Inschrift instruierte mich, was zu unternehmen war, um die Kammer verlassen zu können.
La Très Sainte Trinosophie
Kapitel 2 – Ende (verkleinert)
Nachdem ich eine Weile über das Gemälde und den Kristallstern nachgesonnen hatte, schickte ich mich an, die rote Tür zu passieren. Da begann sie sich mit schrecklichem Gekreisch in den Angeln zu bewegen und schlug vor mir ins Schloss. Ich wandte mich daraufhin der himmelblauen Tür zu. Diese fiel zwar nicht zu, dafür veranlasste mich ein plötzliches Geräusch, den Kopf in Richtung des Kristallsterns zu wenden. Ich sah, wie dieser flackernd von seinem Platz abgehoben war, sich im Kreis drehte und schließlich geschwind durch die offene weiße Tür hindurch schoss. Ohne Zaudern folgte ich ihm. ∆
(*) Solfatare (ital.) = Schwefelquelle
Grafik zu Kapitel 2
Zuletzt aktualisiert: 16.11.2007 von Heinz Knotek