Der hohe Rat der Bodhisattvas hat vor Zeiten beschlossen, in den tieferen Schichten der materiellen Welt das erlösende Licht der Lehre Buddhas zu bringen. Dazu sollten sich einige gerade nicht inkarnierte Buddha-Jünger freiwillig bereit erklären, die schwere Last einer Inkarnation im Reich der Ratten anzunehmen. Um die hohen Seelen zu briefen, was sie zu erwarten hätten, erhielten sie ein Handbuch über das Leben im Reich der Ratten zur Lektüre, bevor sie den süßen Trunk der Lethe, der sie – einmal inkarniert – ihre noble Herkunft vergessen lassen würde, zu sich nahmen. Danach konnten die Kandidaten noch einen Rückzieher machen. Keiner tat es. Doch mit Bangen nippten sie Lethes Saft. Auszüge aus dem himmlischen Manual wurden neulich auf einem Feld gefunden.
Wenn da nicht die paar Kupferlinge wären
Im Reich der Ratten fährt man stinkende Autos. Auf Befehl der Rattenführer tankt man freiwillig das einige Kupferlinge billigere E10. Da ist bis zu zehn Prozent pflanzlich erzeugtes Ethanol drin. Das tut dem Auto nicht gut, stinkt ungesund und verleitet profitgierige Landwirte zur Monokultur. Doch der oberste Rattenführer verkündete auf einem Reichsrattentag: Ich lege fest – das ist pro Umwelt, das nennen wir Bio, das ist gut. Dem Rattenvolk steht zwar noch frei, der Führerrattenpropaganda ein Schnippchen zu schlagen und das Zeug einfach nicht zu tanken. Wenn da nicht die paar Kupferlinge wären. Denen kann eine gut reflextrainierte Ratte nicht widerstehen. E10 ist etwas billiger als normales Benzin.
Manch Gefährt des Rattenvolks wird mit Diesel betankt. Dieselfahrzeuge stoßen relativ große Partikel aus. Das ist – oft durch schwarze Rauchwolken sichtbar – auch ungesund. Gute Gelegenheit der Führerratten, sich als fürsorglich und rattenvolksnah zu geben: sie erfinden das Narrativ, diese Partikel würden den Untergang der Welt heraufbeschwören und legen als Zwischenlösung fest, die maliziösen Dieselpartikel in einzubauenden (Zuwiderhandlung wird bestraft) Katalysatoren über einen chemischen Prozess kleinzuhacken. Die schwarzen (also rechts, nationalistisch oder gar nazistisch anmutenden – also narrativ-übergreifenden) Wolken sind nun weg. Dafür können die kleingehackten Dieselrußpartikel jetzt kaum noch von den Flimmerhärchen der Atmungsorgane aufgefangen werden. Der Abgasdreck kann tief in den Atmungstrakt eindringen. Letzteres interessiert die Rattenführer aber nicht. Viele ungesunde oder kranke Ratten bringen Machtvorteile. Und die Rattenopfer? Die sind mit Kupferlingen beschäftigt. Denn der Diesel ist noch etwas billiger.
Das Reich der Ratten ist berühmt für seine umfangreichen und detaillierten Verkehrsregeln. Zum Beispiel gibt es klare Vorfahrtregeln. Ratten auf einer Hauptstraße haben Vorfahrt vor Ratten, die aus Nebenstraßen in den Hauptstraßenverkehr abbiegen möchten. Dabei muss die einbiegende Ratte an ihrem Gefährt den Blinker setzen, damit die Hauptstraßenratten wissen, ob der Artgenosse aus der Nebenstraße links oder rechts fahren will. Konkret läuft das so: Eine Ratte aus der Nebenstraße fährt heran, hält, schaut nach links und rechts ohne den Blinker zu setzen. Angenommen sie will rechts einbiegen. Entdeckt sie dabei von links ein Fahrzeug nahen, überlegt sie kurz, ob sie es noch schafft vorher einzubiegen. Derweil nähert sich das Autos. In dem Maße wie sie erkennt, dass sie die Hauptstraßenratte – wie gesetzlich vorgeschrieben (gegenseitige Rücksichtnahme) – erst vorbeifahren lassen muss, ergreift ein unaufhaltsam drängendes Selbstbewusstsein (oder Ähnliches) von ihr Besitz. „Scheißdrauf“ – denkt die Nebenstraßenratte, gibt langsam Gas und schwenkt bedächtig in die Hauptstraße ein. Genüsslicher Triumpf des Siegers überzieht das Nagergesicht, wenn er im Rückspiegel den ausgebremsten Hauptstraßenartgenossen sieht, wie der tobt über das rücksichtslose Reindrängeln. Das kurzfristige Glücksgefühl führt dabei unvermeidlich zu einem leichten Anheben des Fußes auf dem Gaspedal… (wird fortgesetzt) HEINZ KNOTEK
Zuletzt aktualisiert: 26.02.2017 von Heinz Knotek