Eine „vierte Pāramitā“ Viraga – „Neutralität gegenüber Freude und Leid, Ausdruck der Überwindung aller Formen von Selbsttäuschung, direktes Sehen der Wahrheit“ – wird man in der kanonischen Literatur der verschiedenen buddhistischen Schulen zu den Pāramitā vergebens suchen. Es waren die Theosophen des ausgehenden 19. Jahrhunderts um die russische Mystikerin H. P. Blavatsky die von 1875 bis 1895 buddhistische Lehren erstmals einer breiteren Öffentlichkeit des westlichen Kulturkreises zugänglich machten. Dazu gehörten auch die zur Erlösung von der Bindung an das Rad der Wiedergeburt führenden Tugenden, die Pāramitā, wie Vollkommenes Loslassen (Perfect Detachment).
Divine Virtues: VIRAGA – Perfect Detachment (Part 1)
Aus dem Englischen von Heinz Knotek, mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber der Zeitschrift THE THESOPHICAL MOVEMENT1 (Mumbai/Indien)
Nach Verwirklichung der vorausgehenden drei Tugenden haben wir Liebe, Harmonie und Geduld erlangt und sind in der Mitte des Pāramitā-Pfades angelangt. Bis jetzt sind wir soweit imstande Liebe als Mitgefühl auszudrücken, im Einklang (Harmonie) mit unserem Umfeld zu reden und handeln, wir haben zudem gelernt wenn es sein muss geduldig zu warten. Doch das Denkvermögen sollte auch von der Beeinflussung durch die Sinne, äußere Aufruhr, unkontrolliertes Gerede und instinktive Handlungen frei sein. Vor allem aber sollte es sich von Illusion befreien. Viraga ist für den Sucher auf dem Pfad der goldene Schlüssel, der ihm hilft, das Tor der Versuchungen passieren zu können. Versuchungen neigen dazu, die Persönlichkeit des Menschen in Verstrickungen aller Art zu bringen.
IN der Welt sein ohne
VON der Welt zu sein
Viraga bedeutet ohne raga oder Anhaftung zu sein: Keine Anziehung zu Dingen und folglich auch keine Abneigung ihnen gegenüber. Die Übung besteht darin sich über das Paar der Gegensätze zu erheben. Viraga ist definitiv NICHT als Indifferenz und Gleichgültigkeit gegenüber der Welt zu interpretieren. Viraga wird daher auch als „Höhere Indifferenz“ umschrieben, um es von der tamasischen2 Gleichgültigkeit zu unterscheiden. Manch Möchtegern-Sannyasi (Hindus) oder muslimischer Fakir behauptet ein Vairagi zu sein. Zumeist ist das aber falsches vairagya. Höhere Indifferenz bedeutet die Fähigkeit zu besitzen, den wahren inneren Wert des Wesens eines Menschen, ja jedes Objektes, korrekt zu erkennen. Viraga oder von Leidenschaft freies Bewusstsein erlaubt uns, alles zu sehen wie es ist, ohen deswegen das innere Gleichgewicht zu verlieren, falsche Bewertungen aufgrund von Vorlieben und Abneigungen vorzunehmen. Wir sind fähig die Dinge unbeeinflusst von maya (Illusion) zu sehen. Kurz: wir können die WAHRHEIT erkennen. Echtes Vairagya erlaubt es einer person, IN der Welt zu sein ohne VON der Welt zu sein.
Vairagya ist mentales Loslassen aller Verbindungen mit der Welt. Es kann gut sein, dass wir äußerlich etwas aufgegeben wollen, innerlich aber unverändert gierig etwa nach Süßigkeiten, Alkohol oder Unterhaltung sind. Wer die Sinne im Griff haben will muss auch das Denkprinzip unter Kontrolle haben und darf nicht mental in genau den Genüssen schwelgen, denen er sich äußerlich zu enthalten sucht. Die Gita bezeichnet solche Leute als falsche Pietisten mit einer verwirrten Seele. Es ist entscheidend zu verstehen, dass uns letztendlich nicht die Sinne in die Irre führen, sondern das Denkenvermögen (wird fortgestezt). HEINZ KNOTEK
Zuletzt aktualisiert: 30.06.2015 von Heinz Knotek