Wozu braucht Deutschland bodengestützte Mittelstrecken-Flugabwehrraketen vom Typ PATRIOT? Klar, zur Verteidigung seiner Bürger und seines Landes, wozu sonst. Doch Verteidigung wovor? Oder gegen wen? Vor den Holländern etwa, die als einziges europäisches NATO-Land ebenfalls die geschätzt zwischen zwei und vier Millionen teuren Waffen besitzen? Eher kaum.
Patriot System 2. Foto: Darkone/wikipedia
Oder ist es umgekehrt? Wurde das High-Tech-Spielzeug für die Militärs angeschafft, damit sie im „Notfall“ auch einmal auf echte Ziele schießen dürfen? Wenn alles gut geht, dürfen deutsche Soldaten jetzt bald ungestraft syrische Piloten mit ihren PATRIOTs töten. Die parlamentarische Begründung dieses „Weihnachtsgeschenks“ für einen weiteren Kriegseinsatz der Bundeswehr hat dabei etwas Märchenhaftes.
Geld, Waffen, Munition und enthemmenden Drogen
Märchen besitzen ja bekanntlich entweder eine tiefgehende Metaphorik oder sind schlicht Kinderverarschung. Was trifft nun auf den Parlamentsbeschluss zu, bis zu 400 Soldaten der Bundeswehr an die heiße türkisch-syrische Grenze zu schicken, ausgestattet mit PATRIOT-Raketen und zugehöriger technischer und personeller Infrastruktur, insgesamt bis zu 400 Mann und geschätzten Kosten von 22 Millionen Euro (nicht eingerechnet die Kosten für verschossene Raketen)?
Anders als beim anderen deutschen Kriegseinsatzgebiet, dem von Deutschland noch gut 2.300 Kilometer weiter weg liegenden Afghanistan, wo – laut Verlautbarung der Kriegsbefürworter – Deutschland direkt verteidigt wird, ist die Begründung für den geplanten Einsatz in der Türkei „Bündnistreue“. Deutschlands guter NATO-Freund und hochgerüsteter Partner Türkei fürchtet sich angeblich vor einem Angriff aus Syrien, insbesondere durch dessen Luftwaffe. Gute Freunde lässt man in der Not schließlich nicht im Stich. Spätestens jetzt wird klar: DAS Märchen ist eher keine Metaphorik…
Syrien – ein zerfallendes Fragment
Syrien, noch vor kurzem eine im Nah-Ost-Konflikt ernst zu nehmende Ordnungsmacht, ein international anerkannter Staat – der einzige säkularisierte der Region, wo aller Säkularisierung zum Trotz oder gerade deswegen ebenfalls wie nirgend sonst die einzelnen Religionsgemeinschaften friedlich miteinander lebten und moderat an der Ein-Parteien-Herrschaft von Präsident Assad beteiligt waren – dieser Staat ist nur noch ein zerfallendes Fragment. Die Armee ist mit Mühe und Not damit beschäftigt, sich im Land selbst zu verteidigen. Für einen potenziellen kriegerischen Angriff auf den Nachbarn Türkei fehlt es Syrien an allem, was dazu nötig wäre (wirtschaftliche Ressourcen, ungehinderter Nachschub, sicheres Hinterland, unangefochtene Machtverhältnisse). Ein Angriff ist daher völlig jenseits der militärischen Realität. Zu behaupten, Syrien stelle eine Bedrohung für die Türkei dar, ist blanke Demagogie und ungeschminkte Lüge.
Und was ist mit den Einschlägen auf türkischem Gebiet? In tatkräftiger Kumpanei mit US-Geheimdiensten und zahlenden Diktatoren aus den Golfstaaten hat die Türkei von langer Hand die Destabilisierung Syriens vorbereitet. Die Türkei betreibt streng genommen einen Stellvertreterkrieg in ihrem Nachbarland. Es kommen zwar keine regulären Truppen zum Einsatz. Aber in grenznahen Ausbildungscamps werden willige Desperados aus der ganzen Region mit viel Geld, Waffen, Munition und enthemmenden Drogen ausgestattet und nach Syrien infiltriert. Haben sich diese Terroristen dann bis zur Erschöpfung ausgetobt, können sie sich wieder auf türkisches Gebiet zurückschleichen und Kräfte für die nächste Attacke sammeln.
Mittäterschaft der Bündnispartner
Die USA dürfen ungesühnt im Grenzgebiet zwischen Pakistan und Afghanistan, weitab vom US-Staatsgebiet, mutmaßliche Terroristen von fern mit Drohnen jagen und gezielt töten. Stirbt dabei hier und da auch mal eine Hochzeitsgesellschaft, bedauert man die Opfer zynisch als Kollateralschaden. Wenn sich aber Syrien erlaubt, in einer seiner eigenen Grenzstädte paramilitärisch organisierte Banden zu verfolgen, die etwa seine Postbeamte von Hochhausdächern werfen, und wenn dabei einzelne Geschosse fehl gehen und in dem Land einschlagen, aus dem die Terroristen täglich illegal und unter Verletzung des Völkerrechts eindringen, dann stilisiert sich plötzlich der heimliche Angreifer zum Opfer und verlangt treue Mittäterschaft seiner Bündnispartner – etwa deutsche Soldaten – in einem machtpolitischen Spiel, bei dem die Angst vor Angriffen erkennbar kaum mehr als billiger Vorwand ist. HEINZ KNOTEK
Zuletzt aktualisiert: 28.08.2013 von Heinz Knotek