Serie: Yoga-Aphorismen des Patanjali
Ein Korken auf dem Ozean geht nicht unter. Doch er ist völlig hilflos auch der kleinsten Welle und Strömung ausgeliefert. Auf und ab. Hin und her. Hoch und runter. Machtlos ausgeliefert. So geht es uns, wenn wir nicht bewusst konzentriert sind, heißt es in Sure drei der Yoga Aphorismen des Patanjali. Der Ozean ist hier die unendlich weite Astralwelt:
At other times than of concentration, the soul is in the same form as the modification of the mind1.
Stets hoch konzentriert, bei Tieren eine Frage des Überlebens. Hier Seehund vor Helgoland. (*)
Das ist das Leben der Seele, inkarniert in einen durchschnittlichen Mitmenschen, der sich um Konzentration auf seine Seele keine Sorgen macht. Er ist im wahrsten Sinne des Wortes das Reaktionsprodukt seiner Sinnesorgane. Und sonst fast nichts.
Wir benehmen uns wie
hoch spezialisierte trainierte Hunde
Denken im Dienst der Sinnesorgane ist per se nichts Verwerfliches. Ein solches Denken ist ureigenes Merkmal des Tierreiches. Es sichert das eigene Überleben und das der Nachkommen. Würde eine Amsel oder eine Ratte oder eine Katze plötzlich losgelöst von sinnesorganischer Wahrnehmung denken können, etwa über den Sinn des Lebens oder wie sich am besten die nächste Mahlzeit beschaffen ließe, würde das Vergnügen sehr bald abrupt enden – und zwar vermutlich tödlich. Uneingeschränktes Denken im Dienst der Sinnesorgane, wir nennen das Instinkt, ist für Tiere überlebenswichtig.
Anders als Amsel, Ratte oder Katze erlaubt das Denkvermögen des Menschen Modifikationen der von den Sinnesorganen gelieferten Informationen. Auch wir handeln „instinktiv“. Geschieht das etwa in Grenzsituationen, in denen unser modifizierendes Denken paralysiert wird, wie bei einem Notfall, kann auch hier der Instinkt lebensrettende Wirkung haben. Doch auch jenseits aller Bedrohungen verharren wir im „instinktiven Denken“. Wir machen es uns schön, richten uns gemütlich ein, genießen Speisen, berauschen uns mit Drogen, befriedigen immer ausgefeilter unsere sexuelle Lust. Kurz – wir benehmen uns wie hoch spezialisierte trainierte Hunde.
Doch es geht auch anders. Und religiöse Praxis, auch Yoga-Praxis, dient laut alter Weisheitslehren dem Zweck, das Denkvermögen von den Sinnesorganen abzuziehen und der Seele zuzuwenden, also stets konzentriert zu sein. Entscheidend ist – WORAUF man sich konzentriert. Man kann sich auf einen Papierkorb konzentrieren. Oder auf ein saftiges Steak oder auf einen Freund oder einen Feind oder eben auf Gott oder die Seele. Das ist der erste Schritt. Gelingt der, sind wir eben Papierkorb, Steak, Freund, Feind, unser Konzept von „Gott“ oder unser Konzept von „Seele“.
Sich mit einem Steak oder einem Gotteskonzept zu identifizieren hat jedoch noch KEINE über Konzentration hinausgehende befreiende und erlösende Wirkung; und darum geht es ja beim Ausüben einer Religion oder der Yoga-Praxis. Im ersteren Fall mag man der Völlerei im letzteren Fall religiösem Fundamentalismus zum Opfer fallen. Erlösung liegt, das lehrt schon die zweite Sure der Yoga-Aphorismen des Patanjali, jenseits aller Modifikationen des Denkvermögens. Wer bis hierhin gelangt, steht am Tor zum ewigen Leben der Seele. Das Tor aber ist fest verschlossen und hinter uns rufen laut die Sinnesorgane… (wird fortgesetzt)
(*) Bild/Text: Heinz Knotek
- Sure I.4 ; Quelle: The Yoga Aphorisms of Patanjali, an interpretation by William Q. Judge, Los Angeles, 1987 ↩
Zuletzt aktualisiert: 17.04.2014 von Heinz Knotek