Was ist der Sinn des Lebens? Aus gutem Grund wird der Buddhismus gern als atheistisch deklariert, vor allem von Vertretern jener Religionssysteme, die den Glauben an einen (ihren ganz gruppenspezifischen) anthropomorphen Gott predigen. Buddhisten dagegen empfinden die Aussicht, an einem Tag X in ihrem letzten „Knochensack1“ wiederauferstehen zu müssen eher als Strafe denn als Erlösung.
Chinese Buddhist monks performing a formal ceremony in Hangzhou, Zhejiang Province, China. Photograph: Jon Bragg
Der Buddhist wähnt sich eher als immaterielle Entität, die vorübergehend in einem irdischen Gewand im dichten Reich der astralen Materie wandert, das voll ist von schwierigen Verhältnissen und auf Schritt und Tritt leidvolle Schicksalsschläge bereit hält. Dennoch möchte er ausgerechnet hier gern und auch noch lange leben. Warum? Um Buddha zu sehen (früher oder später), Wissen zu erwerben und innerlich zu wachsen.
Buddha sehen
Das Sehen eines Buddhas ist ausdrücklich WEDER als persönliche mediale Vision zu verstehen noch als verkappter Kult für mutmaßlich „Auserwählte“, irgendwo im Reich des „roten Staubes2“ einen verkörperten Buddha zu treffen. Ersteres wäre Geisterseherei und mit hoher Wahrscheinlichkeit Ausdruck einer psychischen Störung. Letzteres widerspräche dem „Prinzip Empathie“. Demzufolge kann man einen Buddha erst gewahr werden, wenn man in sich selbst Buddha-Natur einigermaßen verwirklicht hat. Hat man das noch nicht, würde man den Buddha entweder gar nicht erkennen oder an seiner äußeren Form anhaften.
„Buddha sehen“ meint daher, das EINE Prinzip Buddha-Natur in sich und allen fühlenden Wesen zu erkennen. Wer dahin gelangt, kann einen konzentrierten Zustand erreichen, in dem selbst die leidvollen Umstände irdischen Seins – ganz wie Buddha Shakyamuni – mit einem Lächeln ertragen werden.
Wissen erwerben
Der Sucher auf dem Pfad hat gemäß Bhagavat Gita auf seiner Pilgerreise zur Erleuchtung (Prajñā) verschiedene Wegabschnitte (yoga) zu absolvieren. An bereits fortgeschrittener Stelle ist dabei der Abschnitt „Pfad der Wissens“ (Jyâna yoga) zu meistern3. Hier hat der Pilger folgende Lektionen zu lernen:
- Viveka (Unterscheidungsvermögen): Die Fähigekeit, jederzeit zwischen dem Realen/Ewigen (Brahman) und dem Unrealen/Temporären (alles Manifestierte) zu unterscheiden.
- Vairagya (frei sein von Leidenschaften): Sich von allen Anhaftungen, insbesondere den temorären Aspekten physischer Existenz, lösen.
- Shad-sampat (Gleichmütigkeit): Folgende Tugenden sind zu aktivieren…
- Zielgerichte Herrschaft über das Denkvermögen;
- Sinne züglen;
- nur Handeln was die Pflicht ist zu tun;
- Ausdauer;
- (Ur-)Vertrauen;
- vollkommene Konzentration
- Mumukshutva (spirituelles Sehnen): Ausgeprägte Sehnsucht nach Selbsterlösung von den Bindungen an temporäre Existenz.
Na wenn das nicht triftige Gründe sind zu leben, lange zu leben… Im Avatamsaka-Sutra heißt es dazu treffend:
What is the reason for wanting to live long amid calamities? It is to see the Buddha and increase in Knowledge4.
HEINZ KNOTEK
- Knochensack: in buddhistischen Schriften gern benutzte respektlose Metapher für die körperliche Persönlichkeit, die im Buddhismus als konditionierte, flüchtige Illusion gesehen wird; also als notwendiges Mittel, nicht aber als Zweck. ↩
- roter Staub: in der chinesischen Philosophie des Dao Bezeichnung für die materielle Welt (紅塵), als vergängliche und illusorische Daseinsebene. ↩
- The Yoga of the Bhagavat Gita, Kapitel VII. ↩
- Quelle: THE FLOWER ORNAMENT SCRIPTURE, A Translation of The Avatamsaka Sutra, by Thomas Cleary, Boston, 1993 ↩
Zuletzt aktualisiert: 11.02.2012 von Heinz Knotek