Anzeichen im aktuellen geopolitischen Geschehen sprechen dafür, dass Amerika meint, bei einem Atomkonflikt dieses Mal ungeschoren davonzukommen. Nachfolgend der Versuch einer thesenhaften Begründung.
Amerika meint ungeschoren davonzukommen
Ein Atomangriff führt auch zur Vernichtung des Angreifers. Dieser Schluss hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum beginnenden Zerfall der Sowjetunion Ende der 1980er Jahre als logische Kette tief ins kollektive Bewusstsein der zivilisierten Welt eingegraben. Vor allem die heute über 45jährigen haben das so begründete Kräftegleichgewicht der Supermächte USA und UdSSR als Garant für den Weltfrieden selbst erlebt. Aller politischen Kontroverse und zahlreicher Stellvertreter-Scharmützel auf der ganzen Welt (Angola, Mosambique, Nicaragua) zum Trotz behandelten sich die beiden Atomsupermächte USA und UdSSR mit Respekt und vermieden direkte Provokationen. Selbst der für seine Ruppigkeit im Umgang mit der sowjetischen Führung bekannte Ronald Reagan ließ erschrocken versöhnliche Signale nach Moskau übermitteln, als in einer bestimmten Situation die Sojwets den Eindruck hatten, es würde ein Atomangriff unmittelbar bevorstehen. Zur kritischen Reflexion bereite Intellektuelle fragen sich daher angesichts der provokanten Kriegsrhetorik der gegenwärtigen US-Administration und ihrer politischen Stellvertreter erschrocken: Sind die wahnsinnig? Sind sie nicht, denn nach dem Kalkül des „Weltführers“ könnte er dieses Mal bei einem Atomkrieg ungeschoren davon kommen.
These 1: Es gibt grundsätzlich keinen polaren Konflikt atomarer Weltmächte
Es gibt grundsätzlich keinen polaren Konflikt atomarer Weltmächte, weil es nur eine Weltmacht gibt – uns, die USA. Russland sei bestenfalls eine Lokalmacht, verlautete US-Präsident Obama auf einer Pressekonferenz in den Niederlanden im Ton verächtlicher Geringschätzung. Das war nicht nur ein rethorischer Seitenhieb, sondern ein programmatisches Statement: Russland ist – anders als zu Zeiten des Kalten Krieges – weder Partner noch Gegener auf Augenhöhe, Putin will sich lediglich als Autokrat wichtig machen, indem er das wirtschaftlich und militätisch abgehalfterte Russland durch aggressives Auftreten seinen Nachbarn gegenüber zu Weltmacht verhelfen will, und das nur, um beim einfachen Wahlvolk Eindruck zu schinden. So die Suggestion1.
These 2: Der Ost-Ukraine-Konflikt ist ein rein lokaler Konflikt zwischen Aggressor Russland und Opfer Ukraine
Victor Klemperer hat in seiner berühmten Abhandlung über die Sprache des Dritten Reiches, LTI – Notizbuch eines Philologen2, nachgewiesen, dass die Rhetorik der Nationalsozialisten die Menschen vor allem durch stereotype Wiederholung der immer gleichen, mit nationalsozialistischen Vorstellungen besetzten Begriffe und Floskeln, beeinflusst hat. Die von den USA und ihren politischen Stellvertretern praktizierte Rhetorik bedient sich täglich genau dieser Taktik. Das ist wie autogenes Training. Man sagt sich vor, dass der Arm ganz schwer und warm ist – bis der Arm zu glühen scheint und vor Schwere nicht bewegt werden kann. Das stereotype Rhetorik-Mantra in dem Fall:
- Russland ist in die Ostukraine einmarschiert,
- greift mit Waffen reguläre ukrainische Streitkräfte an und
- hat in seiner Raserei auch noch ein Passagierflugzeug abgeschossen.
Dass ausgerechnet die USA sich zum strengen weißen Ritter staatlicher Unversehrtheit gerieren, mutet angesichts einer langen Liste völkerrechtswidriger Angriffe auf alle möglichen Staaten weltweit makaber an. Um so erschreckender ist aber, dass ausgerechnet Deutschland – das sowohl einen Joseph Goebbels als auch einen Victor Klemperer hervorgebracht hat – es für politisch opportun hält, wieder stereotype Wiederholungen immer gleicher Begriffe und Floskeln mit hetzerischem Gehalt verlauten zu lassen, jetzt den geopolitischen Zielen der USA gemäß. Denn selbstredend:
- ist der Einmarsch russischer Truppen unverändert unbewiesen,
- werden vor allem von ukrainischen Streitkräften Wohngebiete beschossen, mutmaßlich zielgerichtet, und
- sprechen die Indizien eher dafür, dass ukrainisches Milität den Passagierjet abgeschossen hat.
These 3: Entzündet sich an/in der Ostukraine ein Atomkrieg, ist Amerika gar nicht betroffen
Die erfolgreich forcierte Realisierung von THESE 2 stellt sicher, dass ein sich an/in der Ostukraine entzündeter Krieg ohne oder mit Atomwaffen als folgerichtige Steigerung der unterstellten fortgesetzten Aggression Russlands gegen die Ukraine erscheint, als Folge der „stereotypen Wiederholung der immer gleichen, mit hetzerischen Vorstellungen besetzten Begriffe und Floskeln“. Die Vorarbeiten (Thesen 1 und 2) erlauben es, in der öffentlichen Meinung ad hoc primitive Feindbilder zu reaktivieren, etwa vom böse-grimmigen Bären der nicht davor zurück schreckt, das unschuldige Schäfchen (Ukraine) selbst mittels Atomwaffen zu reißen. Dabei kann ohne Bedenken der Erstangriff von der Ukraine selbst ausgehen oder Russland sich defensiv verhalten. Das spielt dann keine Rolle mehr. Der Abschuss des malaysischen Flugzeugs kann dazu als – erfolgreicher – Testlauf gesehen werden. Es ist völlig offen, wer den Abschuss verantwortet. Dennoch wird von Anfang an und rund um die Uhr bei jeder sich bietenden Gelegenheit suggeriert: es waren russsiche Separatisten, also war es Russland. Das ist das Prinzip LTI in Reinkultur3.
These 4: Ein an/in der Ostukraine entzündeter Atomkrieg betrifft primär die Ukraine und sekundär die EU – aber auf keinen Fall Amerika
Das ganz unschuldig und aus rein innerem demokratischen Antrieb der EU-Assoziation zustrebende politische „Schäfchen“ Ukraine wird auf seinem Weg hin zu westlichen Werten todbringend angegriffen, womöglich sogar atomar, man weiß bei den aggressiven Russen ja nie. Jetzt wird klar, warum Obama in seiner Rede im September 2014 auf der 69. UN-Vollversammlung die „Aggression Russlands in Europa“ in einem Atemzug mit dem tödlichen Ebola-Virus in Afrika und „den Grausamkeit der Terroristen in Syrien und im Irak“ erwähnte. Jetzt langsam zur Frage: Ist Obama verrückt? Kann man ein Land mehr verbal erniedrigen? Wie kann er nur den Putin so provozieren? Was wenn es dem reicht, er die Nerven verliert und es den Amerikanern in der Ostukraine mal so richtig zeigt? Nun – ganau darauf läuft ja das „Kalkül Atomkrieg“ hinaus.
These 5: Kalkül – Atomkrieg mit der Ukraine und der EU
Durch die Medien geistert in den letzten Tagen die verstörende Meldung, George Soros und Zbigniew Brzezinski würden die EU auffordern, sich militärisch gegen Russland hochzurüsten und sich stärker in der Ukraine zu engagieren. HOCHRÜSTEN bedeutet, sich gegen die mutmaßliche – auch atomare – Übermacht Putins (gegen Russland selbst hat man nichts, nur gegen Putin, so die maliziöse Suggestion) zu wappnen, um zum gegebenen Zeitpunkt angemessen abstrafend gegen Putin (Russland) reagieren zu können. Kein öffentliches Wort des tiefen Entsetzens oder der ostentativen Zurechtweisung dieser Anstiftung zum Krieg bisher seitens der EU-Staaten.
These 6: In einem (atomaren) Schlagabtausch zwischen Ukraine/EU und Russland eilt Amerika zu Hilfe – atomar
Ein militärischer Angriff4 mit konventionellen Waffen, was immer auch eine atomarer Option impliziert, aus Richtung Ukraine/EU löst mutmaßlich in Russland Atomalarm aus. Abwehr- und Vergeltungssysteme werden aktiviert, die Erstschlagskraft dabei primär auf den potenziellen Angreifer ausgerichtet, also die Ukraine und die EU. Im worst case, im Falle eines vermuteten atomaren Angriffsversuches, werden die Abwehr- und Vergeltungssysteme mit der Wucht der Erstschlagskraft „freigegeben“. JETZT, nach der ersten Abwehr- und Vergeltunsgwelle der russischen Landesverteidigung und dem „Verschiessen“ der Wucht der Erstschlagskraft, JETZT kommt Amerika als treuer Bündnispartner auf den Plan.
Jetzt mit einem um gut zwei Drittel reduzierten Risiko5, selbst flächendeckend einem atomaren Gegenangriff zum Opfer zu fallen. Selbst bislang nicht involviert und zu diesem Zeitpunkt noch mit uneigeschränkter Erstschlagskraft ausgestattet, attackiert Amerika das seiner Erstschlagskraft bereits beraubte Russland zielgerichtet: Kommandozentralen, Abschussrampen, Leitssysteme. Zu einem globalen Vergeltungsschlag Russlands gegen Amerika wird es kaum mehr kommen können.
Mission accomplished? Mitnichten. Bedrückende Ängste und drohende Gefahren, die man sich getraut mutig genau anzugucken, zu benennen und zu analysieren, verlieren einen Großteil ihres bedrückenden und bedrohenden Charakters. Lasst uns also genau hingucken, die Dinge beim Namen nennen und nüchtern analysieren. Lasst uns aber auch hoffen, dass Putin weiterhin den Pöbeleien gegen sein Land und seine Person starke Nerven und einen kühlen Kopf entgegensetzt. Und hoffen wir, dass die politischen Entscheidungsträger in Europa sich von aller Kriegstreiberei emanzipieren und hoffen wir schließlich, dass die USA sich ihres einstigen Rufes erinnern und als würdig erweisen: eine gerechte Nation zu sein. Dann wird es keine MISSION geben. HEINZ KNOTEK
- Im öffentlichchen Bewusstsein ist kaum die Tatsache präsent, dass es Wladimir Putin war, der einen apokalyptisch anmutenden Niedergang seines Landes, der Millionen Menschen zwang in lumpenproletarischen Umständen zu vegetieren, stoppte und ab 2001 Schritt für Schritt aus Russland einen selbstständigen und lebensfähigen Staat gemacht hat, der seinen Bürgern zivile Lebensverhältnisse zu garantieren vermochte. Dazu zählte u. a. auch, dass der Ausbeutung der landeseigenen Rohstoffvorräte durch ausländische Konzerne und der nahezu vollständige Abfluss der daraus erzielten Gewinne ins Ausland unterbunden wurde. Alles wäre kaum ohne einen autokratischen Regierungsstil möglich gewesen, auf den in der allgemeinen Russlandhetze des Westens zu Unrecht gern negativ Bezug genommen wird. ↩
- Lingua Tertii Imperii: Sprache des Dritten Reiches, 1947 ↩
- Es sei in dem Zusammenhang daran erinnernt, welchen Anlass Hitler zur Begründung des Krieges des Dritten Reiches gegen Polen benutzte: ein fingierter Überfall polnischer Soldaten auf den deutschen Sender Gleiwitz. ↩
- Für einen solchen Angriff braucht es freilich der guten Ordnung halber einen einigermaßen plausiblen Anlass. Auch hierzu geistern im Internet verstörende Szenarien herum, die weniger wegen der Nennung selbst, sondern ihrer gefühlten Realitätsnähe verstören. Zum Beispiel eine atomare Explosion in der Ostukraine, die Russland als atomarer Angriff unterstellt wird, was wiederurm rechtfertigt, dass die Ukraine zur „Verteidigung“ Russland angreift. ↩
- das erste Drittel Risiko trägt unmittelbar die Ukraine, das zweite die EU ↩
Zuletzt aktualisiert: 05.03.2024 von Heinz Knotek