Begriffe und Werte und ihre Anwendung verlangen heutzutage eine kritische Betrachtung. Denn viele mit Begriffen und Werten assoziierte Inhalte sind entweder verschwunden, Begriffe und Werte sind nur noch Fassade. Oder die Inhalte haben sich ins Gegenteil verkehrt. Beispiel: Selbstvertrauen.
Vertrauen auf das SELBST galt ursprünglich als das Gegenstück zur Selbstsucht oder des ausschließlichen Verfolgens persönlicher Eigeninteressen. Mit dem Begriff SELBST war ein göttliches immaterielles Prinzip assoziiert, das allem SEIN zugrunde liegt. Zum SELBST kommt man bewusst demnach nur, wenn man seine Ich-Zentriertheit ablegt.
Ohne die naturgesetzlichen Thesen Karma und Reinkarnation bleiben solche Überlegungen ohne Wirkung. Wenn persönliche Existenz entweder rein materieller Art oder die Grille eines persönliches Gottes ist, macht es keinen Sinn, das vergängliche Selbst der Persönlichkeit einem zeitlosen SELBST zu opfern. Im Gegenteil. Dann ist der Daseinskampf oberstes Gebot. Und folglich sagt man Selbstvertrauen demjenigen nach, der diesen Daseinkampf äußerlich am besten meistert. Oder in anderen Worten: Selbstvertrauen hat der, der sein kleines Ich am auffälligsten aufzublasen vermag. Etwa – im harmlosen Fall – in dem er sich mit Statussymbolen ziert. Solche Menschen leben in Hüllen und Fassaden. Wenn die Hülle einst zerfällt, zerfällt auch das Selbstvertrauen. Leere bleibt. Die ohnmächtigen astralen Reste der Persönlichkeit treiben ziellos umher und dem nächsten Leben in Fassaden entgegen.
Leere Fassaden: Klosterruine in Marburg, Nordhesssen
(Bild: trinosophie.info)
Selbstvertrauen bedeutet aber ursprünglich etwas ganz anderes. Es geht von der Tatsache aus, dass ein Betrachten zwei Dinge impliziert:
• es gibt Etwas, das man betrachten kann und
• es gibt einen Betrachter
Üblicherweise identifizieren wir uns ganz mit dem, was wir betrachten. Das ist, als ob ein Schauspieler sich dermaßen mit seiner Rolle identifiziert, dass er vergisst, nur Schauspieler zu sein. Er empfindet dann Freuden und Leiden seines Protagonisten persönlich. Doch das ist irreal. Und würde den Schauspieler früher oder später in den Irrsinn treiben.
Mit dem ICH und dem SELBST verhält es sich offenbar ähnlich. Identifizieren wir uns ganz mit unserem ICH, sind wir verloren, wie der Schauspieler im Gleichnis. Dann gibt es keine Selbsterkenntnis sondern Kampf ums Dasein. Und am Ende Krankheit und Tod. Und Leere.
Gelingt es aber, trotz engagierter Teilnahme am Schauspiel des alltäglichen Lebens, sich wenigstens etwas bewusst zu bleiben, dass wir ja nicht das Schauspiel sondern nur dessen Betrachter sind und dazu diese oder jene Rolle zu SPIELEN haben, können wir SELBSTBEWUSST jenes SELBST finden. Denn das persönliche ICH büßt damit etwas von seiner betäubenden Allmacht ein.
Haupthindernis ist dabei mangelnde Fähigkeit zur Konzentration. Zu überwältigend ist der Eindruck der Sinne. Nur jeweils kurz können wir uns unseres Rollenspiels bewusst bleiben, um dann wieder ganz im „Bühnenspiel“ aufzugehen. Meist sind erst Schicksalsschläge erforderlich, um uns aus diesem Rausch der Sinne aufzuwecken. Dann wird uns klar, dass bei allen Wahrnehmungen der Wahrnehmende wichtiger ist, als das Wahrgenommene. Der Fühlende ist dann wichtiger, als das Gefühl. Die schmerzhafteste Erfahrung lehrt dann plötzlich, dass es ETWAS geben MUSS, das die Erfahrung wahrgenommen hat. Dieses Etwas ist zwar IMMATERIELL und doch ganz konkret. Und es ist GRÖSSER als das kleine ICH, ist überall, auch im Anderen. Das soll der Anfang des ERWACHENS sein.
Zuletzt aktualisiert: 22.08.2007 von Heinz Knotek