Während in Kairo, Tunis und Algier Menschenmassen nach Demokratie rufen und sich dabei die Erfüllung eines Traums von mehr Wohlstand und Freizügigkeit erhoffen, schreibt Claus Leggewie in einem Beitrag zum Niedergang der Sozialdemokratie: „Etwas ist grundfalsch in der Art und Weise, wie wir heute leben.“ Untertitel des Artikels: Wie kann die Demokratie wiederbelebt werden1.
Wahre Änderung ist nur an einem selbst möglich – durch Selbsterkenntnis. Die ägyptische Pyramide in Gizeh ist das altehrwürdige Symbol für diesen schweren Gang. Foto: Hajor
Wie nun? Ist etwa das, was die Massen in Nordafrika so vehement begehren letztendlich etwas „Grundfalsches“. Wenn dem so ist, ist es dann nicht eigentlich zynisch Menschen zu etwas zu beglückwünschen, von dem wir (insgeheim) wissen oder ahnen, dass es ein erschöpftes Modell ist? Was, wenn auch die Massen von Kairo das mitbekommen?
Das individuelle Ego der Persönlichkeit ist zu überwinden
Die heutigen Bewohner Ägyptens haben nur wenig innere Verbindung zu ihren weisen Vorgängern, dennoch ist mit der großen Pyramide in Gizeh ausgerechnet mitten unter ihnen jenes Symbol zu finden, das auf die einzige Möglichkeit wirklicher Änderung hinweist: Das individuelle Ego der Persönlichkeit ist zu überwinden – durch eine von Selbsterkenntnis und Selbstüberwindung geprägte Lebenshaltung. Die Ägypter haben also die Stein gewordene Antwort auf ihr Streben nach Freiheit direkt vor den Toren ihrer Hauptstadt.
So wie nach den Weisheitslehren die materielle Welt eine illusorische Projektion des universellen Denkprinzips ist, so ist das Konzept DEMOKRATIE für Völker ohne Erfahrung damit, kaum mehr als ein kurzer Sinnenrausch. Das Konzept Demokratie war und ist für die (west-)europäische Kultur das passende Gesellschaftskonzept nach dem Ende des Feudalismus und für das aufsteigende Industriezeitalter des 19. und 20. Jahrhunderts. Die historisch einmalig lang währende Zeit des Friedens und relativer gesellschaftlicher Stabilität nach Ende des Zweiten Weltkrieges ist der Beweis dafür. Nach einem halben Jahrhundert ist die Parteiendemokratie jedoch spürbar erschöpft. Auch ohne Kenntnis der Weisheitslehren wenden sich die Leute mehr und mehr vom Außen ab und dem Inneren zu. Zumeist bedeutet „Innen“ dabei Familie und Freunde. Doch auch der Weg nach Innen als spirituelle Pilgerreise ist nichts Ungewöhnliches mehr.
Das Wort des alten Vaters als heiliger Akt
Die Glücksschreie von Tunesiern und Ägyptern nach dem knurrigen Abgang ihrer väterlichen Despoten werden noch nachhallen, wenn die Menschen feststellen werden, dass jetzt automatisch weder Wohlstand noch Freizügigkeit zu haben sind. Für mehr sozialen Wohlstand fehlt es an entsprechender Wirtschaftskraft. Der Drang nach kultureller Freizügigkeit wird erwartungsgemäß am Dogma islamischer Fundamentalisten scheitern. Das despotische väterliche Prinzip – in allen islamischen Gesellschaften unumstößliches Gesetz – fehlt nun auf machtpolitischer Ebene. Der Irak zeigt einsdrucksvoll, was aus einem islamisch orientierten Land dann werden kann.
Gern wird in den Medien auf die Türkei verwiesen. Ist die Türkei nicht ein demokratisch regierter, moderner Staat, der dennoch nach islamischen Regeln funktioniert? Dem mag so sein. Jedoch gilt auch in der Türkei gemäß islamischer Tradition das Wort des alten Vaters als heiliger Akt, dem man sich nur mit großer Mühe entziehen kann – und zwar gänzlich unabhängig davon, ob das Wort nun dumpfe Gewalt oder weisen Rat darstellt. Das türkische Demokratie-Modell selbst ist nicht Ergebnis eines historischen Reifeprozesses, sondern die Idee eines „alten Übervaters“ – Atatürk.
In einem Interview hat der Wiener Künstler André Heller, der sich Jahrzehnte für die europäische Sozialdemokratie stark engagiert hat, vermerkt:
Ich glaub’, dass diese alten Parteien in ihrer Anmaßung, jeweils die Wahrheit gepachtet zu haben, todgeweiht sind, und dass es sie spätestens in zwanzig Jahren nicht mehr geben wird2.
Soweit das Ende vom Traum. Und was kommt nach dem Erwachen:
Das Einzige worauf ich wirklich … Einfluss ausübe, bin ich3.
Die Menschen in Nordafrika haben sich gerade aufgemacht, diese uralte Weisheit zu erfahren. Ihre alten politischen Überväter haben sie davon gejagt. Nun müssen sie sich sich selbst vornehmen. HEINZ KNOTEK
Zuletzt aktualisiert: 12.02.2011 von Heinz Knotek