Denkanstöße aus dem AVATAMSAKA-SUTRA
Weisheitslehren aller Hochkulturen sprechen davon: die von den Sinnen und dem Denkvermögen kreierte Illusion einer materiellen Realität sei in Wirklichkeit die Realität fortgesetzter spiritueller Prüfungen für die um Erlösung ringende Seele. Soweit so theoretisch. Die süße Torte, der feine Tee oder der köstliche Wein – eine Illusion? Na wenn schon. Doch Schmerz, Leid, Bedrohung? Zwist, Krieg und Hass zwischen Völkern und Staaten? Lug und Trug bei den Machthabern? Auch Illusion? Auch „na wenn schon“? Der Buddhismus lehrt den unkonditionierten, selbstlosen Dienst für alle fühlenden Wesen. Das ist die Realität buddhistischer Praxis.
Realität buddhistischer Praxis
Im Avatamsaka-Sutra wird auf vielfältige Weise die buddhistische Praxis des unkonditionierten selbstlosen Dienstes beleuchtet. Etwa im Buch neun „Awakening by Light“.
Sentient beings whirl in the sea of craving and greed,
Shroude by the web of ignorance, terribly oppressed;
The Most Benevolent bravely cuts it all away,
We vow to also do so – this is THE practise.
Wenn sich einst brüderlich verbundene Völker in einen blutigen Zwist verwickeln lassen, wenn Staatsoberhäupter selektiv von Freiheit schwadronieren, wenn enthemmte Soziopathen sich als bezahlte „Rebellen“ anheuern lassen, wenn die einen das hemmungslos tun, was sie anderen unter Androhung von Gewalt verbieten, dann spielen immer gieriges Verlangen und Habsucht (craving and greed) eine Rolle. Wenn jemand „Gottes Wort“ selbstherrlich zum blutigen Schwert macht, dann ist das Ausdruck abgründiger Unwissenheit und Dummheit bei den Tätern und löst früher oder später bei ihnen selbst und schon jetzt bei ihren Opfer schreckliche Qualen aus (terribly oppressed).
Das schneidet der Gnädige Buddha nun alles tapfer einfach so ab? Und wir, die seine Lehren praktizieren wollen, tun es ihm gleich. Aber wie nur? Sollen wir in die Ostukraine fahren, dem Gauck die Meinung ins Gesicht schreien, nach Syrien reisen?
Wenn dem so wäre, dann müsste der Buddhismus nur eine weitere heilsverkündende Religion sein. Doch es gibt kein Heil, keine Heilsverkünder und keine Heilsempfänger. Wir können die streitenden slawischen Brüder nicht zur Aussöhnung zwingen. Doch wir können die „streitenden slawischen Brüder“ in uns erst finden und dann zum Ausgleich bringen. Wir müssen uns keinen Besuch beim Bundespräsidenten antun. Den selbstgerecht berechnenden Schwätzer in uns aber können wir schon aufspüren und ihn zum Abdanken auffordern. Und ganz tief innen, wenn wir den Mut haben, können wir mit einiger Anstrengung Gedanken und Gefühle entdecken, wie sie enthemmte bezahlten Rebellen anderswo austoben: Hass, glühende Minderwertigkeitsgefühle, Rachsucht, Arroganz, Gnadenlosigkeit. Nichts kann der Welt besseres passieren, als wenn wir uns diesem inneren Kampf stellen. Auch nur ein kleiner Erfolg dabei ist ein Stück Erlösung für die ganze Welt, für alle fühlenden Wesen. Das ist buddhistische Praxis. HEINZ KNOTEK
Quelle: THE FLOWER ORNAMENT SCRIPTURE, A Translation of The Avatamsaka Sutra, by Thomas Cleary, Boston, 1993, p. 295
Zuletzt aktualisiert: 01.11.2014 von Heinz Knotek