Der Wissende

Von Christian Morgenstern

teaser_morgenstern.jpgChristian Morgenstern
(1871 – 1914)

Der WISSENDE aus dem Gedicht von Christian Morgenstern ist in einer Prüfungssituation. Der – selbst nur einmalige – Blick ins leere Auge der Sphinx hat seine ganze Weltsicht verändert. Der christliche Mystiker erkennt das, was Buddhisten Maya und Taoisten „Welt des roten Staubes“ nennen. Leerheit, Illusion, Täuschung, Ir=Realität. Eine gefährliche Situation. Denn die Verse – so treffend sie auch die Lage beschreiben mögen – verbreiten einen Hauch Zynik. Fast herablassend, wie man vom aufgeregten Gehabe eines lächerlichen Schoßhundes redet. Das kann jedem Sucher passieren. Doch nur weil man meint, einen kleinen Zipfel des WAHNS erkannt zu haben, hat man kein Recht auf die weiter ganz im Wahn Gefangenen mit Verachtung herunterzuschauen. Wer weiter will, muss Verachtung in Mitgefühl transfigurieren. Nicht verächtlich, liebevoll lächelt der wahre Wissende. So heißt es jedenfalls in den Weisheitslehren. Keine leichte Prüfung. (Redaktion)

DER WISSENDE

Wer einmal frei vom großen Wahn
ins leere Aug der Sphinx geblickt,
vergisst den Ernst des Irdischen
aus Überernst und lächelt nur.

Ein Spiel bedünkt ihn nun die Welt,
ein Spiel er selbst und all sein Tun.
Wohl lässt ers nicht und spielt es fort
und treibt es zart und klug und kühn –
doch lüftet ihr die Maske ihm:
er blickt euch an und lächelt nur.

Wer einmal frei vom großen Wahn
ins leere Aug der Sphinx geblickt,
verachtet stumm der Erde Weh,
der Erde Lust, und lächelt nur.

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