Die Demokratie – so kann man den Eindruck haben – ist für Deutschland bislang ein Segen gewesen. Warum eigentlich? Weil trotz schwerer Kriegsschuld Westdeutschland zum Wirtschaftswunderland mutieren durfte, nur wenige Jahre nach Auschwitz und „Plan Barbarossa“, und der dazu verordnete politische Überbau eine repräsentative Demokratie war? Für viele Hundertausende Menschen bedeutete „Demokratie“ weltweit aber den Tod. Denn im Namen der Demokratie wurden und werden Kriege geführt, ganze Landstriche zerbombt und blutig schwelende Fehden zwischen Bevölkerungsgruppen geschürt. Man kann also Demokratie ganz unterschiedlich wahrnehmen. Der Hochschulprofessor für Allgemeine Psychologie an der Universität Kiel, Rainer Mausfeld, geht so weit, Demokratie als etwas zu beschreiben, dass „Schafe dazu bringt, ihre Schlachter selbst zu wählen“.
Die Angst der Machteliten vor dem Volk
Ist Demokratie lediglich eine Art Verwaltung des Sattwerdens und Sattbleibens? Spätestens wenn das Sattwerden auch nur ansatzweise gefährdet scheint, etwa weil Wiesen verdorren oder plötzlich der angestammte Fressraum auch von anderen Schafherden in Anspruch genommen wird, spätestens dann heben auch genügsame Schafe kauend ihren Kopf – und gucken, fragend. An der Stelle wäre das Verhältnis von Schafen, Hirtenhunden, Hirten, Schafherdenbesitzern, Schafffellliebhabern, Hammelbratengernessern und Wiesenverpächtern zu klären.
Die höchsten Preise für Schaffelle und Hammelfleisch erzielen Tiere, die zertifiziert „glückliche Tiere“ sind beziehungsweise waren… Man stelle sich vor, den Schafen würde all das bewusst werden. Sie könnten sich beherzt zu hundert auf die zwei oder drei Hirtenhunde stürzen und danach im Gallopp dem Hirten davon laufen, sich mitten im Wald eine Wiese suchen und frei, unvermarktet und ohne Angst vor dem Schlachthof leben.
Sollte also das passieren, dann müssten sich Eigentümer und Hirten überlegen, wie sie die Schafe davon abbringen können, (1) solche Überlegungen überhaupt anzustellen und (2) aus der erkannten Misere Schlussfolgerungen zu ziehen, die den Interessen von Hirte und Eigentümer zuwiderlaufen. Man könnte ihnen etwa vorgauckeln, sie hätten ihr Schicksal selbst in der Hand, indem sie zwischen mehreren Hirten wählen dürfen. Das ist es, was Mausfeld „Die Angst der Machteliten vor dem Volk“ nennt.
LSI – die Sprache des Zweiten Imperiums (Lingua Secundi Imperii)
In seinem Vortrag stupst uns Mausfeld nicht nur auf die Tatsache, dass wir in Deutschland nach gut 50 Jahren repräsentativer Demokratie völlig aus dem Auge verloren haben, dass Demokratie im Sinne der Aufklärung vor allem Partizipation bedeutet. Er lässt uns in wenigen Sätzen nachvollziehen, dass die repräsentative Demokratie genau diese Partizipation im Keim verhindern soll, also in Wirklichkeit ein Mittel zur Demokratieabwehr ist.
„Unsere Tiefenindoktrination geht so weit, dass wir gar nicht mehr in der Lage sind, Alternativen zur repräsentativen Demokratie zu denken. ‚Selbst die Wahlen sind nichts als ein theatralisches Schauspiel.‘ (The Wall Street Journal) … Wie kann man in einer Demokratie Partizipation im ersthaften Sinne gewährleisten? … Die Veränderungsenergie wird absorbiert: Ihr könnte ja andere Hirten wählen … Der ganze Witz des Systems: Ökonomische Macht in politische Macht zu transformieren. (Rainer Mausfeld, s. Video)“
https://www.youtube.com/watch?v=Rk6I9gXwack
Nach Rainer Mausfeld ist der Neoliberalismus die schärfste Waffe der Eliten gegen das Volk, dazu gehören Mentalvergiftung, Orwellsche Falschwörter, Wortaberglauben, Denunziationsbegriffe. Er warnt vor der Denunziation von Elitenkritikern. Er warnt aber auch davor, der Urlüge des Kapitalismus zum Opfer zu fallen:
„Wer Elitenkritik formuliert, die sich gegen die Zentren der Macht richtet, der neigt (gemäß Denunziationsstrategie) auch zum Rassismus. Damit haben wir wieder eine Verklammerung mit einem geächteten Bereich. Wir haben das eigentliche Ziel der Kritik zu einem gedanklichen Sperrbezirk gemacht … Urlüge des Kapitalismus: Es geht uns allen besser, wenn nur die oberen ein Prozent sich genügend gemästet haben.“
Heimat des Neoliberalismus sind die USA. Mausfeld weist auf das dem Exzeptionalismus ergebene Selbstverständnis der neoliberalen Eliten der USA hin, die sich damit stolz in der Tradition des Römischen Imperiums auf der Höhe der Macht sehen. Der Vortrag ist eigentlich ein detaillierter Exkurs in die Sprache dieses imperialen Machtanspruches. Man könnte sagen: In Anlehnung an das Werk von Victor Klemperer, Lingua Tertii Imperii, zur Sprache des weltpolitisch eher temporären „Dritten Reiches“, lernen wir die SPRACHE DES nach Rom ZWEITEN IMPERIUMS – Lingua Secundi Imperii, LSI – kennen. Und vor allem, sie zu durchschauen. HEINZ KNOTEK
Zuletzt aktualisiert: 07.04.2017 von Heinz Knotek