Digitales Atmen. (*)
Sie sitzen in einheitlicher Schuluniform vor einheitlichen Tablet-PCs1. Vor den Fenstern der Privatschule die lebendige Kulisse des Kulturdorfs Neubeuern, inmitten der Natur des Alpenvorlandes. Drinnen keine Bücher, die man vergessen kann. Kein Collegeblock der leer ist. Also kein Blatt das man bei seinem Sitznachbarn erfragen müsste. Keine Stifte die man spitzen muss. Alles formatisiert und auf Knopfdruck und per „wisch-und-weg“ abrufbar. Schüler solcher Schulen sind jetzt Dialogpartner von – Maschinen. Wobei die Maschinen das WIE und WAS vorgeben, das wiederum ein Über-Administrator in den Einstellungen des Schulnetzwerkes festgelegt hat. Keine Möglichkeit mehr, eine bedrückte Stimmung durch Unordnung auf der Schulbank zu signalisieren. Kein Grund mehr da, seine Fähigkeit zur Selbstorganisation zu trainieren, in dem man am Vorabend des Schultages seinen Ranzen packt. Stattdessen die Illusion eines omnipräsenten WLAN, das in Wirklichkeit Ausdruck einer omnipotenten Kontrollmacht ist. Denn natürlich kann es nur kontrollierten und reglementierten Zugang ins Internet geben. Der Eintritt in diese „schöne neue Welt“ kostet um die 33.000 Euro im Jahr. Ist das die Schule der Zukunft? Sollen wir freudig darauf warten, dass das digitale Atmen bald auch in den Schulen fürs Volk ankommt. Oder besser beten, dass Gott das den Reichen und Schönen überlässt, wenn er will auch als Denkzettel?
Allein Schüler tragen das volle Risiko
In immer mehr gesättigten Märkten müssen sich Unternehmen etwas einfallen lassen. Etwa Bedürfnisse und Bedarfe erfinden, um anschließend entsprechende Produkte und Dienstleistungen anbieten und vermarkten zu können. Lebensmittelingenieure konfektionieren beispielsweise daher Chips so, dass man auch nach der zweiten Tüte nicht satt wird und stets Appetit auf mehr hat. Pharmakonzerne bieten Heilmittel für Krankheiten an, die man zuvor aus einem Bündel von Symptomen „erfunden“ hat.
Im Bildungsbereich funktioniert das ähnlich. Plötzlich MUSS es unverantwortlich sein, Kinder mit schweren Schulranzen zur Schule laufen zu lassen. Plötzlich ist man geradezu Rabeneltern, wenn man seine Kinder dazu anhält, ein Hausaufgabenheft ordentlich zu führen. Oder möchte man schon gern auch seine Kinder die Hausaufgaben aus dem Internet laden lassen, kann sich aber nur nicht die iPads dazu leisten?
Kann man die Schüler aus Neubeuern beneiden oder muss man sie bemitleiden? Der radikale Schritt hin zu einer Volldigitalisierung des Schulbetriebes wird gewiss keine leichtfertig von Schulträger, Lehrern und Eltern gefällte Entscheidung gewesen sein. Allerdings tragen allein die Schüler das volle Risiko. Denn allein aus wirtschaftlichen Gründen und aus Imagegründen muss sich die Entscheidung auf Gedeih und Verderb als richtig und gut erweisen, auch und gerade dann, wenn sie sich vielleicht als nicht so richtig und nicht so gut entpuppen sollte. Niemand kann es es sich leisten, einen solchen Schritt zu vollziehen und etwa nach drei oder fünf Jahren die Entscheidung in Frage zu stellen und die – dann übrigens schon längst veraltete – Technik wieder abzubauen und zuverschrotten.
Allerdings müssen sich der technikorientierte Schulträger und die HighTech-Eltern nicht akut sorgen. Denn vermutlich werden sich die „Risiken und Nebenwirkungen“ des digitalen Atmens in der Schule erst im Erwachsenenalter bei den Kindern auswirken. Vielleicht werden sie dann den Wahn der Digitalisierung des Schulbetriebes ihrer Eltern genau so verfluchen, wie heute die mittlere Generation die bequeme Flucht ihrer Eltern aus der erzieherischen Verantwortung in die „antiautoritäre Erziehung“ verflucht.
Ausgewogener Umgang mit den Trends und Techniken
Doch wie vernünftig dosierte Aspekte einer antiautoritären Haltung den Erziehungs- und Bildungsprozess befruchten können, so haben auch digitale Medien, vernünftig dosiert, einen unverzichtbaren Platz im Bildungsprozess. Gemäß der weisen Lehren der alten Philosophen scheint zwischen totaler Technikverweigerung und völliger Technikhingabe der GOLDENE MITTELWEG – also der ausgewogene Umgang mit den Trends und Techniken – in die für die anvertrauten Jugendlichen richtige Richtung zu weisen. Es ist dabei allein unsere Entscheidung, ob wir unsere Kinder „Extrem-Anbietern“ überlassen. Es liegt auch ein Stück weit in unserer gestalterischen Macht, dass die „Schulen fürs Volk“ nicht jedem von den Konzernen suggerierten Trend hinterher rennen und die Tugend des GOLDENEN MITTELWEGES pflegen – selbstbewusst und kompetent.
(*) Text/Bild: Heinz Knotek
- s. Süddeutsche Zeitung: „Google statt Gehirn“, 29. September 2012 ↩
Zuletzt aktualisiert: 07.10.2012 von Heinz Knotek