Wird in der Türkei der arabische Pseudo-Frühling zum echten Muslimischen Frühling?

Marodeure und Kombattanten nennt Recep Tayyip Erdoğan, gegenwärtig Ministerpräsident der Türkei, geringschätzig die jungen Demonstranten, die vor allem in Istanbul aber auch in anderen Regionen des Landes die drohende Fällung von einigen Bäumen als Anlass zum friedlichen Protest gegen die Erdoğan-Administration nutzen, die ihrer Meinung nach schleichend die Islamisierung der Gesellschaft vorantreibt.

Taksim-Platz
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Gerade noch hat sich Erdoğan vehement zum Fürsprecher echter Maro­deure und Kombattanten gemacht: unter dem Deckmantel „arabischer Frühling“ wurden und werden mordende Banden ins Nachbarland Syrien geschleust. Plötzlich kehrt sich alles um. Erdoğan sieht sich selbst pro­tes­tierenden Massen gegenüber. In der Türkei könnte aus dem ara­bi­schen Pseudofrühling ein echter Frühling werden, ein muslimischer.

Gegen schleichende Islamisierung der Gesellschaft

Das Recht gegen gewalttätige „Rebellen“ vorzugehen, das Erdoğan gerade noch dem syrischen Präsidenten abgesprochen hat, nimmt er jetzt selbst in Anspruch. Nur sind die „Rebellen“ friedliche Bürger. Und anders als in Syrien mischen sich keine vom Ausland unterhaltenen bewaffneten Banditen unter die Demonstranten. Der friedliche Protest artet daher nicht in bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen aus. Dennoch hat es bereits Opfer gegeben.

Selten lässt sich das Prinzip „Ursache und Wirkung“ – das im Sanskrit als karma umschreiben wird – so unmittelbar im politischen Alltag erleben. Wird Erdoğan den Demonstranten nachgeben, gar mit ihnen verhandeln oder zurücktreten, wie er das vom Herrscher im Nachbarstaat Syrien süffisant fordert? Die Unruhen gegen die Erdoğan-Administration reißen jedenfalls nicht ab. Mit Wasserwerfern und Tränengas versucht die Regierung den Protest, der sich nicht mehr nur gegen das Bauprojekt im Gezi-Park am Taksim-Platz richtet, sondern gegen den autoritären Regierungsstil, einzudämmen.

Und erstmalig in einem muslimischen Land stellen sich die Menschen auch gegen eine schleichende Islamisierung der Gesellschaft. Hier geht es also nicht um dumpfe Revolte von sozial enttäuschten Massen, sondern um eine reformatorisch anmutende Forderung, mit der Trennung von Staat und Moschee ernst zu machen und – indirekt – eine kollektive Ablehnung eines fundamentalistischen Islam. Das alles hat in einem Park begonnen. Im Frühling. HEINZ KNOTEK

Linksunten: Anti-Erdogan-Demos reißen nicht ab links_yellow.gif

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