Wer sich wenige Wochen vor Eröffnung der Olympiade in China für einen authentischen Einblick in das geistige Innenleben der Chinesen interessiert, dem sei das Buch DIE BERGE HÜTEN DAS GEHEIMNIS von Bill Porter und Steven R. Johnson (Road to Heaven. Encounters with Chinese Hermits) empfohlen.
Die Welt des roten Staubes – in der chinesischen Tradition Sammelbegriff für die Genüsse und Leiden des materiellen Lebens. Bild: Ko-Sen
Da ist zum Beispiel die buddhistische Nonne in den Bergen nahe Xian. Eines Tages kommt ihre Schwester aus der Stadt. Gerade in Rente gegangen, will sie sich nach einem arbeitsreichen Leben endlich dem Buddha-Dharma zuwenden. Oder der fast hundertjährige Eremit, der den ausländischen Besucher kichernd fragt, wer denn nur „der große Vorsitzende“ sei, von dem er dauernd reden würde. Die Bewohner des Dorfes am Fuße des Berges hatten „ihren“ Weisen jahrzehntelang vor den roten Garden geschützt und versorgt.
Der Welt des roten Staubes entsagen
Das Ende der 1980er Jahre entstandene Buch führt dem westlichen Leser vor, wie man sich im modernen China ganz der Tradition des Buddhismus und Taoismus hinwenden kann. GANZ HINGEBEN bedeutet, der „Welt des roten Staubes“ zu entsagen. In der Tradition des Tao wurde unter ROTEM STAUB allgemein das materielle Leben mit all seinen Genüssen und Plagen verstanden. Sich davon zurückzuziehen ging auch noch in den 1980er Jahren. Und geht auch heute. Schwierigkeiten und Behinderungen bei der religiösen Praxis kommen nicht etwa von Verboten und weltanschaulichen Restriktionen durch die Behörden. Sondern vom Ansturm der Touristen.
Buch-Cover © Walter-Verlag
Wird etwa ein abgelegenes taoistisches Kloster an die Strom- und Wasserversorgung angeschlossen, ist das für die Klosterinsassen keineswegs ein Zeichen des Fortschritts und kein Grund zur Freude. Der Abt klagt stattdessen, dass dadurch lediglich aufdringliche Touristen angezogen und die Mönche in ihren Übungen behindert würden. Also ziehen sich Einzelne auch heute noch zurück. Gehen tiefer in die Berge, um die dem Spirituellen kontraproduktiv gegenüber stehenden Segnungen der Zivilisation zu entfliehen.
Die Autoren, ein amerikanischer Zen-Mönch und ein mit ihm befreundeter Fotograf, haben um das Jahr 1998 herum das Unmögliche geschafft. Allen Unkenrufen zum Trotz gelang es ihnen den Nachweis zu erbringen, dass die Tradition der Eremiten in China ungebrochen ist. Doch das äußere Leben das die Autoren von den Eremiten nachzeichnen ist alles andere als idyllisch. Das physische Überleben ist anstrengend. Die Dächer der Hütten sind undicht, das Herbeischleppen der Lebensmittel ist eine einzige Plackerei. Im Winter ist es bitter kalt. Und doch erkennt der Leser durch alle groben Lebensumstände hindurch den Charme wieder, wie ihn die überlieferten Erzählungen über buddhistische und taoistische Einsiedler versprühen.
Man mag sich am Ende des Buches NICHT in den nächsten Flieger nach Xian setzen. Denn beim Lesen wird klar: der Charme der Einsiedler, die der Kulturrevolution widerstanden haben und den lauten Touristen widerstehen, ist ein INNERER. Um den zu finden, muss man nicht durch die Welt reisen. Wer das Buddha-Dharma und die Lehre des Tao sucht, muss sich nach INNEN wenden. Hier und jetzt.
Bill Porter: DIE BERGE HÜTEN DAS GEHEIMNIS, Begegnungen mit chinesischen Eremiten , Solothurn und Düsseldorf, 1994
Zuletzt aktualisiert: 26.07.2008 von Heinz Knotek