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„die eiCloud“. (*)
Karfreitag darf man per Gesetz aus religiöser Pietät in Deutschland nicht tanzen. An diesem Tag soll Jesus gekreuzigt worden sein und bei der Gelegenheit gleich auf alle Zeiten freiwillig die Erbsünde und Schuld aller Menschen irgendwie auf sich und dann irgendwie mitgenommen haben. Wenn letzteres so wäre, würde es eigentlich reichlich Grund zur öffentlichen Freude geben. Dem steht jedoch ersteres gegenüber, der hypothetische grausame Tod am Kreuz. Das ganze Drama basiert exklusiv auf der Sammlung kanonischer Evangelien im Neuen Testament, von denen vor allem die drei synoptischen Evangelien – nach Matthäus, Markus und Lukas – durch eine eher ungehobelte Diktion auffallen.
Der Mystiker und Theosoph James Morgan Pryse (1859 – 1942) zog daraus den Schluss, dass sich die Autoren spiritueller Textvorlagen bedient haben müssen, die sie nach ihren Vorstellungen an den neuen religiösen Staatskult angepasst haben. Als Vorlage kommen nach Pryse Fragmente der Kleinen und Großen Mysterien in Frage. Zumindest theoretisch wird mit dieser These plötzlich manches klar, was bisher im Dunklen lag. Etwa, warum der Tod am Kreuz Jesus ausgerechnet nachmittags zwischen sechs und neun Uhr ereilt haben soll – ereilt haben musste.
Der Mystische Tod von Îesous1 – die Krönung des Königs
Das Evangelium nach Markus
Mark. 15,33/34/38/37
Und als die sechste Stunde eingetreten war, kam eine Finsternis über die ganze Erde bis zur neunten Stunde. Und in der neunten Stunde rief Jesus mit lauter Stimme: „Elohi, Elohi, lama sabachthani?“ (das heißt übersetzt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?) … Und der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke von oben bis unten … Da stieß Jesus einen lauten Schrei aus und verschied.
Kommentar von James Morgan Pryse2
Die Zahl neun war den Griechen heilig und wurde auch die mystische Zahl der Einweihung genannt. Sie bildet vom Stellenwert her die größte Ziffer gefolgt von der zehn, der Zahl der Synthese des Dezimalsystems, die daher auch als perfekte Zahl galt und als solche symbolisch die Sonne darstellte. Da beim Zählen nach der neun die erste Einheit der nächsten Dekade folgt, galt die neun als Zahl der Wiederherstellung, als der Beginn von etwas Neuem. Die neun deutet daher an dieser Stelle auf die spirituelle Wiedergeburt und den Eintritt in das ewige Leben hin. Das griechische Wort έννέα („neun“) ist etymologisch eng mit νέα („neu“) verbunden, was übrigens auch für das Sanskrit-Wortpaar navam und nava und das lateinische novem und novus gilt.
Doch in der Neun steckt noch mehr Symbolik. Gebildet von drei Triaden (3 x 3) symbolisiert sie die in den drei Daseins-Welten manifestierten drei göttlichen Hypostasen. Von den vier transzendeten Zuständen des Bewusstseins können die drei niedrigen mit den Zuständen
- Wachsein,
- Träumen und
- traumlos Schlafen
assoziiert werden, während der vierte Zustand als der noetische3 gilt. Nun, zur dritten Stunde (streng genommen nach Ablauf der dritten Stunde), wird Îesous gekreuzigt, das heißt die Kundalini4 erreicht die Bewusstseinszentren (Chakras) im Gehirn und tritt von der physischen Ebene zur psychischen über. Nach Ablauf der sechsten Stunde hat die Sonne (symbolisch für das Denkvermögen) ihre Strahlkraft verloren. Dunkelheit zieht auf – das Bewusstsein tritt von der psychischen Ebene (symbolisiert durch die Analogie des Träumens) aus in einen Zustand ein, der mit traumloser Leere verglichen werden kann. Zur neunten Stunde schließlich stößt Îesous seinen letzten Atemzug aus, der Schleier wird zerrissen, die Sonne ist wieder mit einem Strahlenkranz gekrönt – das Bewusstsein ist in einen reinen göttlichen Zustand übergetreten. Der Schleier der Illusion ist aufgelöst, die wunderbare Erleuchtung des Geistes ist vollbracht.
Die unheiligen Hände, die diese erhabene Allegorie „historisierten“, haben ihr damit eine traurige Verwüstung angetan. Glücklicherweise haben sie aber in ihrer Unwissenheit die wesentlichsten Details der Allegorie erhalten und den Rest nur ungeschickt verschleiert. Auf diese Weise erweist sich der wenig heldenhafte Ausruf „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (wörtlich aus dem Griechischen übersetzt „mich im Stich gelassen“) als unangebrachtes Zitat aus Psalmen 22 – als Einschub, der weder zur historisierten noch zur allegorischen Auslegung der Geschichte passt. Denn in beiden Auslegungen ist der Tod von Îesous dessen siegreicher Triumph. (wird fortgesetzt)
(*) Bild/Text/Übersetzung aus dem Englischen: Heinz Knotek
- Der Autor versucht auch bei der Diktion von Eigennamen weitgehende Anlehnung an deren altgriechisches Original. ↩
- Quelle: The Restored New Testament, by James Morgan Pryse, 1925 ↩
- noetisch: von NOUS (griech.), entspricht dem höheren spirituellen Denkvermögen des unsterblichen Seelenfunkens; im Gegensatz zum niederen Denkvermögen phrên der sterblichen Persönlichkeit. ↩
- Der Kontext Kreuzigung-Kundalini wird in einem nachfolgenden Artikel reflektiert. ↩
Zuletzt aktualisiert: 09.04.2012 von Heinz Knotek