Autorisierte Übertragung aus dem Englischen
Nehmen wir an, ein Sucher hat bereits viele Jahre mit Nachdenken, Lesen, Diskutieren und dem Treffen von Lehrern verbracht. Möglicherweise hat er dabei sogar Menschen getroffen, von denen er annimmt, sie hätten das Ziel bereits erreicht.
Dem Heimatinstinkt vertrauen führt ans Ziel (Bild: Trinosophie-Blog)
Vermutlich hat er sich dabei der einen oder anderen spirituellen Übung verschrieben. Alles zusammen hatte seine Auswirkungen auf ihn.
Sich in das unbekannte Terrain des GEISTES stürzen
Er mag sich als verwandelter Mensch vorkommen. Er ist überzeugt, wo er zuvor unsicher war. Er wähnt sich erwacht, wo er zuvor schlafend war. Er empfindet sich als reifer, beherrschter und mit sich und der Welt in Frieden. Tatsächlich hat er genügend Erfahrungen gesammelt, um sicher zu sein, mit den auferlegten Übungen, zu denen ihn sein inneres Sehen getrieben hat, auf dem richtigen Weg zu sein. Doch die Übungen bringen ihn nicht automatisch die Erfüllung, die er anstrebt. Sie mögen sein Wesen prägen, ihn von emotionalem Ballast befreien und seine Vorstellungen konkretisieren. Doch es wird nichts „Spirituelles“ sonst passieren, wenn nicht das Feuer des drängenden Strebens in ihm ist, sich in das unbekannte Terrain des GEISTES stürzen zu wollen.
Sri Madhava Ashish (Foto:
NEW PARADIGM BOOKS)
Er mag eine bemerkenswert disziplinierte Persönlichkeit geworden sein. Oder außergewöhnlich integer und frei. Zweifellos steht er auf der Skala der menschlichen Evolution höher als die meisten anderen. Doch wenn er ehrlich zu sich selbst ist, muss er zugeben, dass ein Rest Ungewissheit geblieben ist. Dieser Rest an Ungewissheit wartet darauf, dass ein Etwas es stillt. Dieses Etwas, nach dessen Präsenz ihm verlangt, hat er bereits spüren können. Die Verheißung einer ultimativen Erfüllung durch dieses Etwas war es, das ihn all die Jahre hindurch aufrecht gehalten hat.
Es ist dieses „Etwas,“ das gewohnheitsgemäß mit Begriffen, wie GOTT, GEIST, LEERE, SINN DES LEBENS oder ähnlichem bezeichnet wird. Doch diese Worte sind lediglich suggestive Symbole, die gewohnheitsgemäß etwas präsentieren, was nicht präsentierbar ist. Wird sich der Sucher dieses Umstandes bewusst, wird er gewahr, dass er nicht wirklich etwas sucht. Und dass es sein Streben sogar zunichte machen würde, wenn er seine Suche an Begriffen festmacht, die – selbst wenn sich von nicht deskriptiver Art wären – lediglich im übertragenen Sinne etwas präsentieren.
Diese Begriffe haben die Eigenschaft, sich den Übungen anzuheften, die Schulen bestimmter Richtungen in ihrem Zusammenhang praktizieren. Das mag scheinbar die Nützlichkeit von Mantra-Rezitationen in Frage stellen. Denn die benutzten Wörter sind ja lediglich Assoziationen zu theologischen oder philosophischen Systemen von Hindus, Moslems, Christen oder Buddhisten. Meditation wiederum ließe sich als bloßes mentales Training deuten, um sich auf die entsprechende Schule oder Richtung auszurichten. Diese Sichtweise lässt sich ändern, indem man sich vor Augen führt, dass die unterschiedlichen Schulen lediglich Varianten ein und derselben Übung praktizieren. Was ein sicheres Zeichen dafür ist, dass die Übung einen eigenen inneren Wert haben muss, unabhängig von der Färbung, die ihr im Einzelfall verpasst wird.
Der Sucher findet auf diese Weise heraus, dass es eine Vielzahl nützlicher Praktiken gibt, mit deren Hilfe sich die Fixierung auf die nach außen gerichteten Sinne überwinden lässt. Diese Übungstechniken sind genau so erprobte Werkzeuge, wie Hammer und Säge für den Zimmermann. Entsprechend den Erfordernissen lassen sie sich anwenden oder entsprechend anpassen.
Erprobte Werkzeuge allein führen nicht zum Ziel
Dem Sucher sollte klar sein, dass Werkzeuge ganz unterschiedlichen Zwecken dienen können. Kein Werkzeug, keine Disziplin und Übung ist für sich allein ausreichend, um den Menschen auf seiner Reise nach Innen voranzubringen. Ganz gleich, ob man selbst damit arbeitet oder es seinem Meister überlässt. Darauf will auch die in vielen Traditionen verbreitete Redewendung hinweisen, dass einem die finale Verwirklichung nur als göttliche Gnade geschenkt werden kann. Die Wirksamkeit dieser „Gnade“ hängt dabei auch von der Fähigkeit des Suchers ab, keinen Ersatz und keine Halbheiten für eine authentische Erfahrung gelten zu lassen.
Mancher aufrichtige Sucher hegt den Glauben, eine authentische Erfahrung der Einheit allen Seins und spirituelle Verwirklichung seien ein und dasselbe. Doch dem ist nicht so. Eine solche Erfahrung KANN einem tatsächlich verwirklichten Menschen zufallen. Sie kann aber genau so gut spontan auftreten, etwa durch intensive Meditation und sogar mit Hilfe von Drogen. Das Kosten einer fremdartigen Frucht bedeutet nicht automatisch auch, diese zu besitzen. Das Erlebnis mag Gewissheit geben, dass man eine solche Erfahrung wieder erkennen wird. Außerdem lässt sich jetzt der außerordentliche Wert spiritueller Verwirklichung wertschätzen. Je nachdem in welchem Maße der Sucher für eine völlige Selbstübergabe an das Ziel der Verwirklichung gewappnet ist, kann es auch Irritation auslösen, wenn die Verwirklichung von ihm Besitz ergreift.
Völlige Verwirklichung bedeutet nicht, zu wissen, wie sich ein gelegentliches Verschmelzen im universellen Gewahrsein anfühlt. Es bedeutet auch nicht, auf Kommando oder je nach Lust und Laune das Empfinden der Einheit herbeizuführen. Völlige Verwirklichung bedeutet, die Wahrnehmung des Universellen komplett – also ohne Einschränkung und Ausnahme – in das eigene individuelle Wesen zu integrieren. Ganz im Sinne eines Sufi-Meisters:
„Jeder kann leicht verstehen, dass ein einzelner Tropfen in einem Ozean aufzugehen vermag. Wie aber in einem einzelnen Tropfen ein ganzer Ozean enthalten sein kann, ist ein großes Mysterium.“
Vielleicht ist der Begriff „Mysterium,“ der auch die Basis der Vorstellung von „Mystizismus“ bildet, ein Schlüssel. Dem Sucher muss bewusst sein, dass er auf der Suche nach einem Mysterium ist. Mit welch erhabenen und glühenden Worten man es auch umschreiben mag – die damit verbundenen Gedanken und Gefühle sind ein Nichts im Vergleich zur Herrlichkeit des offenbarten Mysteriums. Dieser Herrlichkeit einen Namen zu geben würde den täuschenden Eindruck erwecken, das Mysterium wäre bereits erschlossen, ein Suchen möglicherweise nicht nötig. Verwirrung, Zweifel, Ungewissheit, Verzweiflung ist das unausweichliche Schicksal desjenigen, der das Mysterium zu erschließen sucht. Denn er muss sich standhaft an ein Wissen halten, das er nicht besitzt und nicht besitzen kann – bis es ihm offenbart wird.
Gegen diese Ungewissheiten lässt er das instinktive Verlangen seines Wesens antreten, das ihn sicher führt, wie der Heimatinstinkt das Pferd seinen Weg finden lässt, wo der Reiter sich verloren wähnt. Hoffnung hält ihn aufrecht, wo die Vernunft versagt. Liebe führt ihn, wenn alles sonst im Schrecken zu versinken droht. (Ende des Textes. Zwischenüberschriften von Redaktion)
Copyrights:
Originaltitel: The Value of Uncertainty
Translated with permission from In Search of the Unitive Vision: Letters of Sri Madhava Ashish to an American Businessman, 1978-1997, compiled with a commentary by Seymour B. Ginsburg, NEW PARADIGM BOOKS, < www.newpara.com >, 2001. Originally reprinted with the permission of The Theosophical Society in America.
Zuletzt aktualisiert: 01.08.2010 von Heinz Knotek