Erreicht eine Zivilisation – wie zum Beispiel Ägypten, Griechenland oder Rom – durch eine fortgeschrittene Entwicklung des intellektuellen, mentalen und materiellen Wesens der Menschen ihren Gipfel, kommt es gleichzeitig zum Höhepunkt im Streben nach immer ausgefeilterer Bedürfnisbefriedigung.
Gebogenes Metallgestell an einer deutschen Straßenbahn-Haltestelle, damit wartende Fahrgäste, wenn sie schon stehen müssen, wenigstens sich bequem anlehnen können. Bild: Ko-Sen
Merkwürdig nur – steht der technologische und materielle Fortschritt in voller Blüte, beginnt alsbald die Blüte zu welken und stirbt aus. Ohne dass sie eine Art „spirituelle Frucht“ erzeugt und hinterlassen hätte.
Doch warum kämpfen wir so angestrengt, den Stein den Berg hinauf zu rollen, nur um zusehen zu müssen, wie er – einmal oben angekommen – wieder herab rollt? Können wir nicht erkennen, dass hinter aller Zivilisation, Kunst und allem technischem Fortschritt die wirkliche Realität verborgen liegt?
Verantwortlich sind eine latente geistige Trägheit und die störrische Weigerung, wenigstens hypothetisch anzunehmen, dass Frieden und Glück in einer anderen Richtung liegen könnten, als in immer weiter verfeinerten technischen Hilfsmitteln. Stattdessen rennen wir dem Vergnügen hinterher, wie die Sonnenblume sich nach dem Sonnenstand dreht. Und machen dabei die schmerzliche Erfahrung, dass der Genuss eines Vergnügens verloren geht, sobald er erlangt wurde. Wir also von vorn beginnen – es suchen und erlangen – müssen. Dabei entzieht sich das Vergnügen nur deshalb im letzten Moment unserem Zugriff, weil wir versuchen, den Hunger der Seele durch den Umgang mit äußeren Objekten zu befriedigen. Es braucht eine lange Zeit, um dieses Dilemma zu erkennen.
Das erste Mal
Wir bemühen uns, Genuss und Vergnügen durch Wiederholung und Intensivierung festzuhalten. Doch während es eine unbeschreiblich beglückende Erfahrung ist, das erste Mal aus dem Becher der Lust zu trinken, geht beim Versuch, diese Erfahrung zu wiederholen, bereits einiges an Zauber und Intensität verloren. Mit jeder Wiederholung fügen wir dem Becher einen Tropfen Gift hinzu. Das geht so lange, bis sich schließlich nur noch Gift im Kelch befindet.
Ein Alkoholiker wendet sich immer und immer wieder der Flasche zu. Der Feinschmecker vergnügt sich mit verfeinertem Geschmack und vollkommenerem Aroma. Nicht anders bei intellektuellen Genüssen. Große Schriftsteller und Philosophen mögen zu bestimmten Zeiten die Menschheit mit ihren Gedanken und Vorstellungen aufgerüttelt haben. Doch schließlich wird daraus ein schales Festhalten an eingefahrenen und bekannten Vorstellungen.
Gift oder Elixier: Das zweite Mal ist entscheidend
Nicht zweimal darf am selben Becher des Vergnügens genippt werden, wird in den alten Weisheitslehren gewarnt. Schon beim zweiten Mal kommt entweder ein Tropfen Gift hinzu – oder ein Tropfen Lebenselixier. Die Warnung bezieht sich auf den Sinn und Zweck, warum es die Möglichkeit, Genuss und Schmerz zu erfahren, im menschlichen Wesen überhaupt gibt. Wer wünscht, dass sich der Becher der Lust statt in einen Giftkelch in einen Kelch des Lebenselixiers verwandelt, muss bereit und willens sein, allmählich ETWAS von seinem ALTEN LEBENSSTIL aufzugeben. Konkret: es ist ein „grober Anteil“ des eigenen Wesens abzulegen – eine Herkules-Aufgabe, denn gerade die groben Aspekte des Menschen halten ihn mit astralen Ketten fest im Griff.
Erreicht eine Zivilisation ihren materiellen Gipfel, öffnen sich Viele der Vorstellung, dass etwas jenseits des Materiellen existieren muss. Eine steinharte und unbewegliche Ich-Zentriertheit führt zugleich zur Neigung, an Vertrautem festzuhalten. Wer aber mit seinem gegenwärtigen Zustand zufrieden ist, sieht keine Notwendigkeit, ein spirituelles Leben zu führen. Wir sind überzeugt, dass wir zufrieden und glücklich wären, wenn wir nur ein Auto, einen Job und Geld hätten. Haben wir das alles einmal erlangt, beginnen wir nach einem größeren Wagen, einer höheren Position im Beruf und nach mehr Geld zu streben. Zugleich neigen wir dazu, uns jetzt Genüsse „zu leisten,“ die uns zuvor unerschwinglich waren. Schließlich wird früher oder später ein Zustand der Sättigung und Übersättigung erreicht…
An dieser Stelle rührt sich innerlich die göttliche Unzufriedenheit und macht uns – wenn wir ihrem Ruf Gehör schenken – empfänglich für die eigenen höheren Potentiale.
(Ko-Sen)
Anmerkung: Der Beitrag bezieht sich in Teilen auf die Artikelserie, THOUGHTS ON „THROUGH THE GATES OF GOLD,“ des Magazins THE THEOSOPHICAL MOVEMENT, Mumbai, India.
Zuletzt aktualisiert: 27.06.2008 von Heinz Knotek