Mit Wiedergabe wahrer Erlebnisse eines Komapatienten
Bewusstseinvorstellung von
Robert Fudd, Alchemiker des
17. Jh. Abb. gemeinfrei
Aus der Tiefe des Gehirns,“ lautet die Headline zum Artikel einer großen Tageszeitung über die erfolgreiche Kommunikation von Neurologen mit langjährigen Patienten im Wachkoma. Mit dieser Nachricht dürften sich all jene bestätigt fühlen, die auch ohne aufwendige Forschung schon wussten, dass Komapatienten nicht das sind, für was die Schulmedizin sie hält: physiologisch funktionierende Tote ohne Bewusstsein. Die Forschungen der Neurologen lassen zukünftig hoffentlich auch Organtransplantationen in einem anderen Licht erscheinen. Denn bekanntlich werden gerade für den Zweck der Organentnahme die physischen Funktionen potentieller Organspender aktiv gehalten. Das könnte der Vermutung Nachdruck verleihen, dass Spender unter Umständen die Entnahme ihrer Organe hilf- und machtlos als grauenvolles Ausschlachten erleben müssen.
Wahre Erlebnisse eines Komapatienten
(Orts- und Personennamen geändert)
Das Überholmanöver war fehlgeschlagen. Das Auto, ein Dreier BMW, kam dabei von der Fahrbahn ab und zerschellte an einen Baum. Das Unglück ereignete sich nur wenige Meter entfernt vom Ortseingang von B. Dort wohnte Thomas, der verunglückte 20-jährige Fahrer, bei seiner Mutter Gerda. Gerda hatte gleich ein mulmiges Gefühl, als sie im Bett gegen ein Uhr nachts von Ferne die Sirenen der Rettungswagen hörte. Eine Stunde später stand sie vor Aufregung und Angst zittern am Lager ihres Sohnes – in der Intensivstation im nahen Kreiskrankenhaus. Diagnose: schwere innere Verletzungen, Gehirnblutung, Koma.
Das Koma sollte 18 lange Monate dauern. Fast täglich fuhr Gerda zu ihrem Sohn. Die Ärzte gaben ihm keine Chancen. Thomas Körper würde beim Abschalten der Apparate sofort aufhören zu funktionieren. Für die Ärzte war er tot. Nicht aber für Gerda. Gerda ist streng gläubig, ist Mitglied einer christlichen Sekte, die ihren Glauben auf eine fast fundamentalistische Bibelauslegung gründet. Der Glauben lehnt alle esoterischen Thesen als Ketzerei ab, etwa dass bewusstes Sein auch ohne Körperdasein möglich ist und der Mensch bei vollem Bewusstsein seinen Körper verlassen kann. Und doch hat Gerda das Empfinden, sie würde Signale ihres Sohnes empfangen, als ob er mit ihr versuchen würde zu kommunizieren. Dieses Empfinden stürzt sie in Gewissenskonflikte. Sie behält ihre Eindrücke daher für sich.
Mit der Zeit verschwinden die Zweifel. Thomas steht mit ihr in einer subtilen mentalen und emotionalen Verbindung – da gibt es nichts dran zu rütteln. Doch sie behält die sichere Erkenntnis umso mehr geheim. Ärzte und Schwestern betrachten mitleidvoll, wie sie mit Thomas redet, ihm von daheim berichtet, frische Frühlingsblumen ans Bett bringt, von seinen Freunden berichtet. Arme Frau, scheint das medizinische Personal zu denken.
Auf subtile Weise LEBEND und lebendig
Als das Unglück sich jährt, hat Gerda eine – wie sie meint – immer bessere Verbindung zu Thomas gefunden. Wenn sie ihn besucht, hält sie seine Hand. Zuckungen begleiten ihre Berichte. Das seien lediglich Nervenreize, antwortet die Schwester, als Gerda ihr davon erzählt. So sehr sie der Zustand ihrs Sohnes leiden lässt, um so mehr freut sie sich, dass sie ihn auf subtile Weise LEBEND und lebendig fühlt. Schier unerträglich ist ihr aber die Gewissheit, dass sie die ganze Zeit über etwas von Thomas empfängt, es aber nicht verstehen – in Alltagsgedanken umsetzen – kann. Sie stellt sich vor, wie schlimm es für den Jungen sein muss, wenn er verzweifelt versucht etwas mitzuteilen, er aber nicht im Geringsten verstanden wird.
Eines Tages dann der Anruf aus dem Krankenhaus: Thomas wäre zu sich gekommen, ist ansprechbar. Gerda fliegt förmlich zu ihrem Sohn. Noch zwei Wochen, dann würde man Thomas entlassen können, sagen die Ärzte. Natürlich kommt Gerda nun erst recht täglich ins Krankenhaus. Sie ist glücklich, mit ihrem Sohn reden zu können – und ihn zu hören. Als sie ihm erzählt, dass sie die ganze Zeit das Gefühl hatte, mit ihm in Kontakt zu stehen, wird Thomas seltsam still und abwesend. Dann plötzlich fängt er an zu berichten.
Ja, er hätte sie täglich gesehen. Und zwar von dem Moment an, da sie sich dem Haupteingang des Krankenhauses näherte. Er wusste daher immer schon etwas im voraus, ob sie Blumen dabei hatte oder jemand sie begleitete. Diese Vorfreude war ein ganz intensives Gefühl. Wenn Gerda dann am Bett von draußen berichtete, hat er nicht nur alles mit Interesse zu Kenntnis genommen, er habe auch auf ihre Worte versucht einzugehen. Doch konnte Gerda ihn offenbar nicht verstehen. Selbst wenn er es mit besonders einfachen Sätzen probierte. Dann war da noch dieser Transport. Der hätte ihm große Angst gemacht. Welcher Transport, fragt Gerda nach.
Thomas erzählt, dass er vor einiger Zeit plötzlich an einem Vormittag in ein anderes Krankenhaus gefahren wurde. Dort stellten die Ärzte alle möglichen Untersuchungen bei ihm an. Der plötzliche Ortswechsel löste Panik aus. Die beruhigende Orientierung war verschwunden. Zudem kam das unbestimmte Gefühl hinzu, ihm drohe hier eine lebensbedrohliche Gefahr. Dann wurde er zurückgefahren. Kurz bevor die Mutter zu Besuch kam, lag er wieder am gewohnten Ort. Er hätte versucht ihr über das Erlebte zu berichten. Doch leider konnte sie ihn nicht verstehen. Gerda erinnert sich in dem Moment an einen Tag, als die scheinbar leblosen Finger des Sohnes fast verzweifelt ihre Hand gedrückt haben. Nervenzuckungen nannte das die diensthabende Schwester.
Gerda spürt, hier ist etwas faul
Am Tag von Thomas Entlassung bittet Gerda den Chefarzt um eine Unterredung. „Wieso“, spricht sie ihn unvermittelt an, „wieso haben sie Thomas in eine andere Klinik verlegt, ohne meine Erlaubnis und ohne mich darüber zu informieren?“ Dem Chefarzt fällt förmlich die Kinnlade herunter. Ungläubig und erschrocken starrt er auf Gerda. Komapatienten dürfen nur nach Rücksprache und mit ausdrücklicher Zustimmung der nächsten Angehörigen dem Risiko von Krankentransporten ausgesetzt werden. Der ertappte Arzt versucht die Haltung zu bewahren. Zu leugnen wagt er nicht, da er davon ausgeht, ein Kollege oder jemand aus dem Pflegedienst hat die Verlegung verraten. „Bitte entschuldigen sie. Wir hielten eine Röntgenuntersuchung für nützlich, die wir in unserem Hause nicht erbringen können. Ja, wir hätten sie fragen oder zumindest informieren müssen.“ Jovial legt er seinen Arm um Gerdas Schulter. Betont freundlich sagt er: „Aber nun ist ja alles gut.“
Gerda spürt, hier ist etwas faul. Das Röntgen ist eine plumpe Ausrede. Es reizt sie nachzuhaken. Doch dann nimmt sie die Freude über den genesenen Sohn ganz in den Bann. Als sie aufbrechen, kommt der Chefarzt noch einmal hinzu. „Äh… wer hat ihnen eigentlich von dem Krankentransport erzählt?“ Gerda dreht sich ganz langsam dem Arzt zu. Ihre Augen verengen sich zu einem Spalt. Der linke Mundwinkel zieht sich zum Spott leicht nach oben. „Thomas hat es mir erzählt.“ Dann dreht sie sich um und geht, den Chefarzt keines weiteren Blickes würdigend. (Kô-Sen)
Linksunten:
Süddeutsche Zeitung: Aus der Tiefe des Gehirns
Zuletzt aktualisiert: 13.02.2010 von Heinz Knotek