Selbstlosigkeit oder Altruismus ist eine der ersten Tugenden aller spirituellen Pfade. „Selbst-Losigkeit“ steht dabei für ein Denken und Handeln, das NICHT vom persönlichen Selbst dominiert wird. Das illusorische persönliche „Selbst loszuwerden“ ist ein anstrengender und langwieriger Prozess, der aber zugleich voller Fallstricke ist. Der ernsthaft nach Altruismus Strebende muss sich nicht nur vor Sekten und Kulten in Acht nehmen, die ihm mit Techniken, Einweihungen oder „geistigen Führern“ zum Ich zurück locken.
Almosen geben gilt in vielen Religionen und Kulturkreisen volkstümlich als DER Akt der Selbstlosigkeit. Gemälde von Jacques-Louis David (1748–1825). Abb. gemeinfrei
Die größte Gefahr ist das eigene ICH selbst, das sich sprichwörtlich mit Händen und Füßen dagegen wehrt im Königreich der Selbstbehauptung vom Thron gestoßen – oder zumindest zu einer „konstitutionellen Monarchie“ degradiert – zu werden. Der Sucher hat daher eine Kultur der Selbstlosigkeit zu entwickeln.
Regeln, Vorschriften, Grundsätze
Was aber IST reine Selbstlosigkeit, vollkommener Altruismus? Der klassische Ansatz ist der, öffentlich oder insgeheim ein Bündel von Regeln, Vorschriften oder Grundsätzen anzunehmen und diese dann mit aller Kraft praktisch umzusetzen – also im Alltag danach zu leben1. Regeln, Vorschriften oder Grundsätze für ein Leben in Selbstlosigkeit finden sich in allen relevanten Religionssystemen. Sich für ein Set an Regeln, Vorschriften oder Grundsätzen zu entscheiden bedeutet daher oft einer Religionsgemeinschaft beizutreten. Aber auch gechannelte Geister, egomanische Gurus und diverse Erlösersekten bieten dem Sucher Wege an, sich von sich selbst zu befreien.
Doch hier lauert schon die erste Falle. WER tritt denn hier bei? Wer folgt hier einem Guru oder dem Diktat eines „Engels“? Möglicherweise – nämlich – DAS Selbst, das wir gerade zu überwinden gedenken. Mitglied in einer Gruppe mutmaßlich Gleichstrebender zu werden bietet zahllose spannende persönliche Kontakte, Bindungen und Impulse die es zu verarbeiten gilt. Wer wenn nicht unser persönliches Selbst wäre dafür bestens geeignet? Die Assoziation mit anderen Suchern kann daher leicht zum vorübergehenden Ende der Suche werden. Die Gefahr ist dabei umso größer, je exaltierter und exklusiver das „Angebot“ ist. Tiefe Emotionen und das Gefühl Teil von etwas Besonderem zu sein sind für das persönliche Selbst Garantien für eine langes Leben im Reich der Illusion.
Der Mensch ein Doppelwesen,
bestehend aus ZWEI „Selbsten“
Der andere Ansatz für ein Leben in Selbstlosigkeit basiert auf einem Grundstock philosophischer Erkenntnisse und der Technik der Instrospektion, also der selbstkritischen Reflexion des persönlichen Selbst aus Sicht des HÖHEREN SELBST2. Das Konzept eines „höheren Selbst“ als Antithese des persönlichen Selbst ist nur dann praxisrelevant zu verstehen, wenn man einen gewissen Hang zu Philosophie und Erkenntnislehren hat. DANN nur wird plausibel verständlich, dass der Mensch ein Doppelwesen ist, bestehend aus ZWEI „Selbsten“, die permanent im Widerstreit miteinander stehen und deren Kampf am Trefflichsten in Goethes Drama FAUST verewigt wurde. Wissenserwerb und Meditation – die beiden wesentlichen Methoden dieses Ansatzes – bieten fast nichts an angenehmen Emotionen oder erregenden Impulsen des Besonderen. Eher demaskieren die sich schärfenden physischen und astralen Sinne auf Schritt und Tritt das Falsche und Illusorische im Leben der eigenen Persönlichkeit und in der Gesellschaft von Persönlichkeiten. Zugleich deutet sich aber ein real wahrnehmbarer subtiler Weg zum Höheren Selbst an, dem unsterblichen Seelenfunken in uns.
Bewegtes Wasser – kein Durchblick. Bild: Heinz Knotek
Wäre das Bewusstsein ein Bergsee, würde Ansatz eins einer aufregend bewegten Wasseroberfläche entsprechen, die ganz unser Wachbewusstsein in Anspruch nimmt3. Beim zweiten Ansatz kommt die Wellenbewegung langsam zur Ruhe. JETZT erst kann man – zumeist mit einigem Erschrecken – die Trübheit des Wassers erkennen. Doch je mehr im Laufe der Zeit die Oberfläche des Sees zur Ruhe kommt umso tiefer reicht der Blick ins Wasser. Die Trübungen sinken herab, setzen sich ab, lassen Einblicke ungekannter Dimensionen zu. Wenn dann auch noch der Mond sich auf der spiegelglatten Oberfläche zu spiegeln beginnt ist man fast angekommen im Reich der Selbstlosigkeit. Es sei denn, wir sind so was von angetan von alledem, dass – ehe wir es auch nur bemerken – König Ego wieder zurück ist, und stolz verkündet: Ich bin jetzt selbstlos. Der gefährlichste Fallstrick bei der Kulturvierung der Selbstlosigkeit. HEINZ KNOTEK
- Es (ko)existieren zahlreiche Altruismus-Konzepte. Da gibt es etwa den moralischen, normativen Altruismus, bei dem ethische Grundprinzipien zu beachten sind, etwa im Christentum das Regelwerk der Bergpredigt oder das Konzept des achtfachen Pfades im Buddhismus zur Überwindung des Leidens. In der demokratischen Gesellschaft gilt vor allem der Utilitarismus als ethisch erstrebenswert. Altruistisches Handeln wird dabei als Verbesserung des Gesamtwohls der Mitglieder der Gesellschaft verstanden, wobei auch andere Lebewesen einbezogen werden können (Tierschutz zum Beispiel.) ↩
- Hier bedarf es keiner strikten Regelwerke (mehr). Denn der Sucher hat an der Stelle seines Pfades erkannt, dass ALLES was er denkt, fühlt und tut, das NICHT aus Sicht der höchsten Instanz, dem Höheren Selbst, erfolgt, per se NICHT selbstlos sein kann und dass umgekehrt ALLES den Geist reinen Altrusimus in sich trägt, was wir von der hohen spirituellen Warte des EINEN Selbst aus denken, fühlen, tun. ↩
- Das ständige Beachten von Regeln, das frustrierende Feststellen von Regelverstößen und das Ausgleichen letzterer durch Läuterung und Buße hat zweifellos eine zähmende Wirkung auf den Menschen, ist aber letztlich nur fortwährende Symptombehandlung OHNE transformierende Wirkung. ↩
Zuletzt aktualisiert: 20.02.2012 von Heinz Knotek