„iPadisierung“ der Gesellschaft am Beispiel der Süddeutschen Zeitung
Wieder stehen wir an einer Schwelle, an der unsere selbstbewusste Entscheidung gefragt ist: Brauch ich das? Will ich das? Darf ich das? Solche Fragen tauchen aus den psychisch-astralen Tiefen unseres Seins auf. Absender ist der unsterbliche Seelenfunken in uns. Leben in der Seele oder aus der Seele heraus – das lehren die Weisheitslehren aller Hochkulturen – erfordert ein Zähmung der Sinne, kein zwanghaftes Kasteien, aber eine Lebenshaltung der Enthaltsamkeit, ein Leben im Weniger statt im Mehr.
Steve Jobs während der Präsentation der ersten iPad-Generation am 27. Januar 2010. Foto: Matt Buchanan
Doch dann sind da die wunderbaren „Möglichkeiten“, die uns die „iPadisierung“ der Gesellschaft beschert. Um sein Denkenvermögen und die Gefühlswelt mit Bildern zu füllen muss man nicht länger mühselig Bild für Bild abrufen. Ein Wisch genügt und sie gleiten im Dutzend an uns vorbei und in uns hinein. Zwei Wisch, zwei Dutzend. Und bald auch in 3D. Da kann sich glücklich schätzen, wer die Fragen seiner Seele noch wahrzunehmen im Stande ist, nach dem Brauchen, Wollen und Dürfen.
Mehr und mehr Menschen
stellen ihr TV-Gerät einfach ab
Schon einmal stand die mitteleuropäische Kulturgesellschaft vor so einer medialen Entscheidung. In den 1980er Jahren bei der Einführung des Privatfernsehens. Warum sich mit einer Handvoll öffentlich rechtlicher Medienanbieter begnügen, wenn doch das Mehrfache an Angebot möglich ist? Heute klagen die Medienjournalisten über ein zumeist das Denken und Fühlen verletzendes Vulgärprogramm der Privaten und eine zunehmende Boulevardisierung des gebührenfinanzierten Fernsehens. Doch mehr und mehr Menschen stellen ihr TV-Gerät einfach ab, haben also intuitiv die Lektion gelernt, die Prüfung der Zeit erfolgreich bestanden und leben ein bewussteres Sein.
Abgeschaltet. (*)
Und jetzt die Versuchung des „Bilderwischs“. Etwa die Süddeutsche Zeitung – sie beginnt an diesem Wochenende mit einer iPad-Version der täglichen Ausgabe. Jetzt kann man Chefredakteur Kurt Kister in die Augen schauen, wenn er im Leitartikel erklärt, warum das Leben eigentlich erst mit der brandneuen kostenpflichtigen SZ-App wirklich vergnüglich und damit lebenswert ist. Die Bilder des Tages lassen sich jetzt mit einem Wisch grob überfliegen. Heribert Prantl, Chefredaktion Innenpolitik, lächelt einem spitzbübisch mit Dreitagesbart entgegen. Ach und so sieht der – mancherorts gefürchtete – Großmeister investigativen Journalismus, Hans Leyendecker, aus. Grafiken und Statistiken, so heißt es, werden jetzt interaktiv. Natürlich gibt es wo immer es möglich ist Videos zum Anklicken. Und wenn die S-Bahn mal wieder etwas Verspätung hat, kann man die Zeit mit den virtuellen Rätseln totschlagen. Kurz: „Die ganze Ausgabe und viel mehr“.
Besser wofür?
Was wie eine Verheißung klingen soll, lässt sich aber auch als Bedrohung verstehen. Schon jetzt ist die Printausgabe einer überregionalen Tageszeitung, die ihren Content noch ganz eigenständig erzeugt, kaum ganz zu schaffen. Warum sollen interaktive Statistiken und Grafiken gut für das „bessere Verständnis“ sein? Besser wofür? Es ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass gewohnheitsmäßige knuffige Animationen genau das Gegenteil bewirken. Das Abstraktionsvermögen des Betrachters wird tendenziell eingeschläfert. Zugleich wird die falsche Gewissheit suggeriert, den Sachverhalt umfänglich verstanden zu haben. Es ist gut, bei Bedarf Animationen heranziehen zu können. Für das inspirierende Lesen der Zeitung ist es überflüssig. Und warum sollte man das Warten auf die S-Bahn nicht länger mit einer Meditation in Geduld sinnvoll nutzen, um sich stattdessen mit virtuellen Rätseln abzulenken?
So interessant es sein mag, etwa die attraktive Silke Lode (München, Region Bayern) und den smarten Johannes Boie (iPad-Redaktion) zu sehen, so komplett wertlos und eher unnötig ablenkend und damit subtil ermüdend – kurz störend – ist der Sinneneindruck für den eigentlichen Inhalt der Zeitung. Wird man den Heribert Prantl nun jeden dritten Tag rasiert sehen können, sehen müssen? Doch selbst das ist dann nach einer Woche schon repetetiv – langweilig, überflüssig. Die 100 Prozent Aufnahmefähigkeit des menschlichen Denkvermögens wird in jedem Fall im deutlich zweistelligen Prozentbereich mit der Wahrnehmung und Verarbeitung visueller Eindrücke belegt; Potenzial, das nun nicht mehr zur Reflektion, zur Analyse, zur Verinnerlichung, zur Inspiration zur Verfügung steht. Das vermeintlich nützliche MEHR der iPadisierten Printausgabe ist am Ende ein Mehr an unnötigen Sinneseindrücken, also netto WENIGER.
Selbst programmieren oder selbst programmiert werden, das ist hier die Frage. (*)
Wer also in sich Fragen hört, wie „Brauch ich das?“ „Will ich das?“ „Darf ich das?“ sollte dankbar dem Seelenimpuls folgen. Jeder muss für sich selbst frei entscheiden, ob er am Kelch der iPadisierung nur nippen oder ihn in vollen Zügen leeren muss. Wer schon so weit ist und es sich beruflich erlauben kann, der braucht und will das nicht. Aber natürlich darf man. Um den Geschmack einer Frucht beurteilen zu können, muss man sie selbst kosten. Die Journalisten hingegen haben keine Wahl. Sie MÜSSEN sich der iPadisierung ihrer Arbeit stellen. Und man kann sich nur wünschen, dass die Slideshow-süchtigen Massen fleißig die SZ-App kaufen. Denn auch die Eigentümer von Zeitungsverlagen erwarten Gewinnmaximierung. Egal um welchen Preis. Besser die Süddeutsche sowohl gedruckt als auch ipadisiert, als gar keine Süddeutsche.
Linksunten: Süddeutsche Zeitung: Die SZ kommt aufs iPad
(*) Text/Bild: Heinz Knotek
Zuletzt aktualisiert: 18.09.2012 von Heinz Knotek