Der Neurologe und Nervenarzt Wolfgang Ernst untersucht in einem Sachbuch mittelalterliche Segenssprüche auf ihre Wirksamkeit
Merseburger Zaubersprüche in
einem historischen Reprint.
Abb. gemeinfrein
Selbst Nicht-Gläubige spüren – wenn sie nicht derbe Klötze sind – in Kirchen, Moscheen, Synagogen oder religiösen Tempeln von Hindus, Buddhisten und Taoisten etwas Subtiles, das Respekt einflößt, einen die Stimme senken lässt und – wenn sie ganz ehrlich zu sich selbst sind – in ihrem tiefsten Inneren ein Gefühl von heiligem Respekt erzeugt.
Und mancher geht sogar soweit, etwa bei herben Schicksalsschlägen, zu einer solchen „Einrichtung“ zu gehen und sich mit Hilfe von Segnungen, Ritualen, Amuletten und Zaubersprüchen um Erleichterung seiner Lage zu bemühen, nach dem Motto: „Schaden kann es ja nicht.“ Alles abergläubischer Hokuspokus? Nein, weist der Neurologe und praktizierende Psychiater Wolfgang Ernst in seinem Buch Beschwörungen und Segen. Angewandte Psychotherapie im Mittelalter nach. An Beschwörungen und Segenssprüchen ist nicht nur „etwas dran“, sie helfen sogar.
Ganz wie ein Computerprogramm
Zum Beispiel der Blasiussegen. In manchen katholischen Gegenden wird er noch heute alljährlich am 2. Februar (Lichtmess) erteilt und soll ein Jahr lang vor Kehlkopferkrankungen schützen. Im limbischen System löst der Name BLASIUS, so Ernst, eine „psychosomatische“ Reaktion aus, die allen gesundheitlichen Störungen rund um den Kehlkopf – also von Erkältung bis festsitzender Fischgräte – harmonisierend entgegenwirkt. Die meisten alten Beschwörungen und Segenssprüche sind heute „außer Betrieb“, gelten bestenfalls als abergläubisches Kuriosum des Mittelalters. Ist ein Segensspruch vorchristlichen Ursprungs, kann er jedoch sogar mit einer Würdigung im Rahmen einer musealen Präsentation heidnisch-germanischen Brauchtums rechnen, wie die Merseburger Zaubersprüche. Sie sollten einst helfen, Gefangene zu befreien und Fußverletzungen zu heilen.
Das angeblich so dunkle Mittelalter war also auch in Sachen Gesundheitswesen nicht so dunkel wie man ihm nachsagt. Neben der alchemischen Herstellung von hoch wirksamen Heilmitteln waren auch die Segens- und Zaubersprüche Teil eines effektiven Prophylaxe- und Thearapiesystems. Das Besondere dabei: Das System stand auch den Armen und Mittellosen zur Verfügung. Doch wie funktioniert(e) das Ganze? Man kann es sich wie eine Art Erzähltherapie vorstellen. Damit die Therapie anschlagen kann, muss jedoch zuvor im Bewusstsein des Patienten das entsprechende magische Vokabular mental und emotional tief verwurzelt sein – in der Regel Bibelverse und markante volkstümliche Sprüche. Wird jetzt ein Segen erteilt oder ein Zauberspruch zelebriert, werden die gespeicherten Assoziationen aktiviert und etwa heilsamen Botenstoffe ausgeschüttet.
Blasiuskerzenhalter.
Foto: Andreas Püttmann
Ernst weist nach, dass auch das limbische System des Ungläubigen positiv auf Segens- und Zaubersprüche reagiert. Damit findet sich einmal mehr eine der Thesen der alten Weisheitslehren bestätigt. Denen zufolge besteht der Mensch aus verschiedenen „Schichten“ oder Körpern, wobei der physische Körper lediglich das kristallisierte Ende eines Verkörperungsprozesses ist. Dem vorgelagert ist der „Astralkörper“, der den physischen Körper wie eine Aura umgibt und in dem sich subtile Archetypen des Universums, karmische Impulse und diverse „Geister“, astrale Wesenheiten, befinden. Wird ein alter Segen kraftvoll zelebriert, werden astrale Entitäten in der Aura der entsprechenden Person empathisch „programmiert“. Ganz wie ein Computerprogramm sind fortan diese Entitäten damit beschäftigt, sich programmgemäß zu verhalten. Entscheidend ist dabei weniger der Gauben, sondern die reine Kenntnis der existierenden Assoziation. Verliert das Programm im Laufe der Zeit an Wirkung ist es Zeit für ein „Update“, also einen neuerlichen Segen. Kann man nun mit einer Renaissance des Zauberspruchwesens rechnen? Eröffnet sich den alternativen Heilern ein neues (altes) Geschäftssfeld? Eher nicht. Der moderne Mensch hat die inneren Assoziationen zu Bibelsprüchen und Volksweisheiten weitgehend verloren. Eine rein medizinisch motivierte Anwendung würde jetzt mehr einer Suggestion gleichen und gänzlich andere Wirkweisen auslösen, auch solche von fragwürdiger Art.
Im Buch werden ausschließlich Spruchtexte der christlich geprägten europäischen Tradition wiedergegeben und erläutert. Aber was für eine aus historischer Sicht relativ junge Religion gilt, muss notwendigerweise auch und erst recht für ältere Glaubensbekenntnisse gelten, vor allem wenn dort die mystisch-magische Komponente – anders als im Christentum – gesellschaftlich stets anerkannt geblieben ist1. Neu-Druiden, Runen-Jünger, Neo-Taoisten, Theosophen, Anthroposophen und esoterische Buddhisten können sich also durch dieses auch bibliophil empfehlenswerte Werk bestätigt fühlen in ihrem magischen Tun. Auch wenn sie in dem Buch mit keinem Wort erwähnt werden. HEINZ KNOTEK
WOLFGANG ERNST: Beschwörungen und Segen. Angewandte Psychotherapie im Mittelalter. Böhlau-Verlag, Köln-Weimar-Wien, 2011, 386 Seiten, 49,90 Euro
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Beschwörungen und Segen: Angewandte Psychotherapie im Mittelalter
- Mystiker waren im Mittelalter früher oder später der tödlichen Bedrohung durch Neider, machthungrige Glaubensgenossen und Kirchenobere ausgesetzt die auch die kleinste ihnen und unverständlich vorkommende Auslegung des Glaubens als Ketzerei denunzierten – was im schlimmsten Fall zum Feuertod auf dem Scheiterhaufen führen konnte. ↩
Zuletzt aktualisiert: 12.04.2024 von Heinz Knotek