In der Erzählung „J. H. Obereits Besuch bei den Zeitegeln“ von Gustav Meyrink (1868 – 1932) wundert sich der Protagonist schon als Kind über die seltsam widersprüchliche Inschrift auf dem Grabstein seines Großvaters: VIVO, was ICH LEBE bedeutet.
Symbolträchtig – Spiegel an der Wand. Bild: Ko-Sen
Im Nachlass des Opas finden sich außerdem Aufzeichnungen, mit nicht minder irritierenden Sätzen, wie diesen: Wie will der Mensch dem Tod entrinnen, es sei denn, dass er nicht warte und hoffe.
Dann, als Erwachsener, besucht er einmal das geheimnisvolle Grab. Und trifft davor einen altmodisch gekleideten alten Mann, der ihn mit ungewöhnlich lebhaften Augen anblickt. Es ist – wie sich herausstellt – Johann Hermann Obereit, ein Zeitgenosse seines Großvaters und einst mit ihm befreundet. Obgleich dem Äußeren nach kaum älter als der Besucher, muss Obereit demnach über 150 Jahre zählen. Obereit lebt inkognito, gilt im Ort als sein eigener Enkel, denn er will von den Massen nicht als moderner Methusalem bestaunt werden.
Eigener Grabstein? Für Obereit Schutz vor Neugierde. Bild: Ko-Sen
Der Erzähler wird zum Bleiben aufgefordert. Er nimmt die Einladung an, denn er erwartet sich Aufschluss darüber, was die merkwürdigen Aufzeichnungen des Großvaters bedeuten könnten. Und er wird nicht enttäuscht. Meyrink, dem gewisse hellseherische Fähigkeiten nachgesagt werden, führt seinen Erzähler zu einer eine Daseinsebene, die allgemein als Astralwelt bezeichnet wird. An der Existenz dieses subtilen ätherischen Doppels der materiellen Welt spalten sich unversöhnlich die Geister der modernen materialistischen Wissenschaft und der Menschen, die glauben oder wissen, dass es MEHR gibt, als was mit den Sinnen wahrnehmbar ist. Während die Wissenschaft die schiere Existenz einer astralen Wirklichkeit als Fiktion oder Spinnerei verspottet, ist in der esoterischen Weltsicht die Astralwelt nicht nur eine subtile REALITÄT. Hier befinden sich sogar die wirklichen Ursachen dessen, was sich früher oder später auf der materiellen Ebene MANIFESTIERT. Die Astralwelt ist demnach zugleich Spiegelwelt und Sitz der Ursachen für das, was im Materiellen passiert – oder nicht passiert.
Spiegelwelt und Sitz der Ursachen
Die astrale Ebene – oder auch das Astrallicht – wird gern mit einer lichtempfindlichen fotografischen Platte verglichen. Eindrücke werden „eingeätzt“ durch intensive Emotionen und Gedankengebilde. Werden solche Gebilde immer wieder mit neuen Emotionen „belebt,“ können sie sich zu einer Art astralen Entität verdichten. Einmal so in der Aura des Menschen ins Leben gerufen, fordern sie – wie materielle Schmarotzer auch – ständig neue Lebensenergie, also neue emotionale und mentale Zuwendung ihres „Wirts.“ Wird die Situation nicht oder zu spät erkannt, entwickelt der Mensch schleichend ein skurriles zwanghaftes Verhalten.
Spiegelwelt. Bild: Ko-Sen
In der Geschichte berichtet Obereit, wie er einmal mit der eigenen astralen Spiegelwelt Kontakt aufnahm. Was er dabei entdeckte, empörte ihn nachhaltig und stieß ihn ab. Besonders entsetzte ihn der Besuch eines seltsam vertrauten Prachtbaus, das seinen eigenen Namen auf dem Namensschild trug:
Ich trat ein und sah mich selbst im Purpur an einer prunkvollen Tafel sitzen, von tausend Sklavinnen bedient, und ich erkannte in ihnen alle die Frauen wieder, die im Leben meine Sinne erfüllt hatten, wenn auch manche nur für einen flüchtigen Augenblick.
Obereit stellt fassungslos fest, dass sein ganzes Leben ein fortwährendes Verbluten war, seine ganze emotionale und mentale Kraft HIER HER abgeflossen ist. Alles magische Begehren, Hoffen, Warten und Sehnen des ICHS hat im Laufe der Zeit diesen astralen Prachtbau entstehen lassen, während das wirkliche Leben eher trostlos und voller Mühen verlief. Eine Erkenntnis reift in ihm heran, die plötzlich das Gesicht des astralen Doppels angstverzerrt werden lässt:
Da wusste ich, was ich zu tun hatte: kämpfen bis aufs Messer mit jenen Phantomen, die uns aussaugen wie Vampire.
Am Ende gibt Obereit seinem Gast einen Ratschlag von zeitloser Aktualität:
Greifen sie nie nach einer Frucht, die ihnen winkt, wenn auch nur das geringste Warten damit verbunden ist, rühren sie keine Hand, und alles wird ihnen reif in den Schoß fallen…
Lässt man die Ideen hinter der Erzählung als These gelten, ergeben sich rationale Erklärungsansätze für Sucht und alle Formen zwanghaften Verhaltens.
Zuletzt aktualisiert: 14.01.2008 von Heinz Knotek
Meyrinks Hinweise bekommen im Zeitalter von Chatrooms, Web-Communities und Web 2.0 eine besonderes Gewicht.