Hessen ist bei Aussteigern aus Waldorfschulen ein Geheimtipp. Wer feststellt, dass sein Kind im besten Lernalter mit Geige spielen, Holzhütten bauen oder Gewänder schneidern nicht wirklich „fit für das Leben“ in einer Informationsgesellschaft wird, hat in einigen Bundesländern mit Problemen zu kämpfen. Die Rückkehr ins Schulsystem ist an Fristen und Bedingungen geknüpft. Wer die nicht erfüllt hat Pech.
Mit Steiner-Magie angebautes Demeter-Gemüse ist beliebt
(Bild: Trinosophie-Blog)
Hessen jedoch macht einen Übertritt einfach möglich. Wer eine hessische Oma besitzt oder sich vorübergehend einen zweiten Wohnsitz leisten kann hat Glück. Denn der Jugendliche muss lediglich hier wohnen. Nach der Wieder-Einschulung ist noch ein Schuljahresabschluss zu erreichen. Gelingt der, zieht man wieder zurück und kann jetzt daheim ohne Hinderung eine Realschule oder ein Gymnasium besuchen.
Im Brennpunkt öffentlicher Reformdebatten
Das deutsche Schulsystem ist im Brennpunkt öffentlicher Reformdebatten. Einzige Ausnahme bisher: das System der Waldorfschulen. Dabei wird seit 1919 unverändert eine Pädagogik eingesetzt, die anfänglich nicht nur „hastig zusammen gezimmert“, sondern „im Moment des Entstehens schockgefroren und zur unhinterfragbaren Leitlinie für alle Waldorfschulen wurde.“ (Zitat: Süddeutsche Zeitung, 18. Juli 2007). Politische, wirtschaftliche und kulturelle Änderungen in der Gesellschaft fanden und finden kaum einen relevanten Niederschlag im Unterricht. Jede Kritik an den Schriften oder der Person Steiners – der bei vielen Anthroposophen eine sakrosante Rolle einnimmt – ist tabu. Wer diesen Personenkult für unzeitgemäß hält, sich ihm widersetzt, wird persönlich angegriffen. „Jede Form kritischer Fragen sei abgeblockt worden und hätte ihre persönliche Abwertung zur Folge gehabt“ (ebenda). Den drei angehenden hier zitierten Lehrern der Waldorfpädagogik war das zuviel der Steiner-Verehrung. Sie haben den Dienst quittiert.
Nun kommt auch noch eine Untersuchung der Prüfstelle für jugendgefährdende Schriften dazu. Die meint, im Werk Steiners rassistische Elemente entdeckt zu haben. Zwar gehören Steiners Schriften sicher nicht zur bevorzugten Lektüre von Waldorfschülern. Nicht auszuschließen ist aber, dass in den Köpfen mancher Lehrer die teils skurrilen Rassenlehren Steiners herumgeistern und direkt oder indirekt im Unterricht eine Rolle spielen.
Das Sträuben gegen jede Form von Kritik hat einen guten Grund. Schließlich ist das ganze System ANTHROPOSOPHIE mit der Person und den Ansichten Steiners fest verdrahtet. Wird einzelnen Aspekten des Systems zugestanden, dass sie falsch oder wenigstens überholt sind, besteht die Gefahr eines Bruchs der Jahrzehnte gemauerten Schotten. Das SYSTEM als GANZES könnte kritisch hinterfragt werden. „Na und? Worin läge das Skandalon? Der Skandal ist doch, dass viele bis heute nicht bereit sind, das zu tun“ (ebenda).
Erfolgte die Rezeption der Schriften Steiners durch seine Anhänger bislang lediglich in einem missionarischen Sinne, kommt jetzt eine wissenschaftliche kritische Aufarbeitung von außen. Der Historiker Helmut Zander, Professor an der Humboldt-Universität, hat die Herkules-Arbeit auf sich genommen und auf 1.800 Seiten das Werk Steiners und die Geschichte der Anthroposophie im historischen Kontext systematisch untersucht („Anthroposophie in Deutschland“, Vandenhoeck & Ruprecht). Dabei kommen die Verdienste der Bewegung ebenso zur Sprache, wie der verlässliche Nachweis, dass Steiners Texte weitgehend aus irdischen Büchern stammen. Die Behauptung Steiners, aus vermeintlich „göttlichen Quellen“ zu schöpfen, hat heute viele Nachahmer gefunden. Heerscharen von Medien (Channel) behaupten dasselbe und beglücken ihre Anhänger mit den neuesten Durchsagen aus der „geistigen Welt.“
Entstehung der Anthroposophischen Gesellschaft
Zanders Untersuchung entschleiert auch die verklärte Legende über die Gründung der Anthroposophischen Gesellschaft. Danach hat Steiner ganz bewusst darauf hingearbeitet, die Theosophische Gesellschaft Deutschlands für seine Interessen zu instrumentalisieren. Er deutete die Theosophie von H. P. Blavatsky, die bereits von ihrer offiziellen Nachfolgerin Anni Besant und deren Anhängern theistisch verfremdet wurde, weiter um. Mit seiner eurozentrischen Pseudo-Lehre gelang es Steiner, seine machtpolitischen Ambitionen in den Führungszirkeln der deutschen Theosophie erfolgreich umzusetzen.
Dass Steiner dabei besonders rücksichtslos und intrigant zu Werke ging, konnte – wer wollte – auch bisher schon nachlesen. Die Veröffentlichung von 81 Briefen aus dem Nachlass von Wilhelm Hübbe-Schleiden geben Gelegenheit dazu (Norbert Klatt: „Theosophie und Anthroposophie“, Göttingen 1993, s. LINKSUNTEN).
Auf die heutzutage der Jugendgefährdung verdächtigten Rassenlehre Steiners angesprochen, verweisen gelehrte Anthroposophen gern auf theosophische Schriften. Nicht Steiner hätte diese Rassenlehre propagiert, sondern die Theosophen. Auch diese Aussage ist nicht haltbar, wie Zander zeigt. Wenn Steiner von THEOSOPHIE spricht, meint er damit die Theosophie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Das Jahrzehnt nach Blavatskys Tod hatte nicht nur zu einer Zersplitterung der Thesophischen Gesellschaft in sich bekriegende Gruppen mit teils Sektencharakter geführt. Die inzwischen unter dem Label THEOSOPHIE verbreiteten Schriften hatten nur noch wenig mit dem zu tun, was zu Lebzeiten Blavatskys darunter verstanden wurde. Nicht die ursprüngliche THEOSOPHIE der Jahre 1875-1891, die „Theosophie“ Anni Besants war es, derer sich Steiner bediente. Und zwar wissentlich.
Linksunten
Süddeutsche Zeitung: Hat er abgeschrieben?
Norbert Klatt – Theosophie und Anthroposophie
Zuletzt aktualisiert: 31.01.2011 von Heinz Knotek