Allgemein nehmen wir an, die Menschheit würde sich entwickeln. Und fahren wir nicht tatsächlich heute Autos, die sicherheitstechnisch und aus ökologischer Sicht unendlich von den Vehikeln entfernt sind, die – sagen wir mal – in den 1920-er Jahren gebaut wurden? Das entspricht den Tatsachen – und doch täuscht der Eindruck. Während die massenhafte Technisierung gleichzeitig technikfeindliche Bedingungen auf der Erde schafft – Abgase und Emissionen lassen das Klima erwärmen, Profitgier führt zum Veröden ganzer Landschaften, irgendwann geht der Technik schlicht der Saft aus – bleibt der Mensch, seinem Wesen nach wie er immer schon war.
Zeugnis von Werden und Vergehen: Vor sich hin rostende Industrieanlage. (*)
Eine Entwicklung der Menschheit gibt es nicht. Wird eine Errungenschaft als Entwicklung gefeiert wird, ist es nur eine Frage der Zeit, dass sie – sisyphosgleich – durch plötzlich entdeckte Risiken und Nebenwirkungen relativiert wenn nicht gar in Frage gestellt wird. Das war so und wird naturgesetzlich so bleiben. Wer anderes behauptet, fällt einer spät-christlichen Utopie zum Opfer. Das meint zumindest der englische Philosoph John Gray.
Eine sich entwickelnde Menschheit
gibt es nicht
John Gray (61) ist emeritierter Professor an der renommierten London School of Economics and Political Science . Seit den 1980-er Jahren ist er mit originellen und streitbaren Sichtweisen auf die Gegenwart öffentlich in Erscheinung getreten. Zu Beginn des neuen Milleniums hat er das Buch STRAW DOGS, Thoughts On Humans and Other Animals (Strohhunde – Gedanken über Menschen und andere Tiere1) veröffentlicht – auf Anhieb ein Bestseller.
In einer wasserdichten logischen Kette weist Gray nach, dass es eine sich entwickelnde Menschheit nicht gibt. Vielmehr „werden die Menschen von konfliktgeladenen Bedürfnissen und Illusionen angetrieben und sind außerdem allen möglichen Formen von Willens- und Urteilsschwäche ausgeliefert.“
Gray schüttet unvermittelt einen Eimer eiskalten Wassers über seine Leser aus, wenn er scheinbar schlüssig die ernüchternde Tatsache nachweist, dass Humanismus, demzufolge der Mensch sich und die Welt besser machen könnte, kein wissenschaftlicher Fakt, sondern ein nachchristlicher Irrglaube ist. Der irdische Mensch „ist genauso wenig Herr seines Schicksals, wie alle anderen Tiere auch.“
Und schon 2002 warnte Grey vor der gefährlichen Illusion, eine wissenschaftliche Modellierung des Menschen könnte dessen Leiden eliminieren und ihn gottgleich Herr über sein Schicksal werden lassen:
It seems feasible that over the coming century human nature will be scienifically remodelled. If so, it will be done haphazardly, as an upshot of struggles in the murky realm where big business, organised crime, and the hidden parts of government vie for control. If the human species is re-engineered it will not be the result of humanity assuming a godlike control of its destiny. It will be another twist in mans’s fate.
Als Zeichen für den „Fortschritt“ der Menschheit – und Ausdruck für Humanismus schlechthin – gelten die Erfolge bei der Behandlung von Krankheiten. Mit Begeisterung reden Forscher von einer „personalisierten Medizin“ in naher Zukunft. Der Mensch werde weit über 100 Jahre leben können. Ja, früher oder später – da sind sich die vor allem die Genforscher und Transplantationsmediziner ganz sicher – ist der Mensch Herr seines Schicksals. Diese zu erwartende Einstellung im Blick spielt Gray wiederholt auf die Prometheus-Sage an, um den Irrglauben an einer vom Menschen gesteuerten menschlichen Evolution zu verdeutlichen: Wer Gottes Feuer stiehlt, wird an den Felsen zunehmend erschwerter materieller Existenz geschmiedet… Aus einem Titan kann SO kein gottgleiches Wesen werden.
Nicht das Ändern der Welt ist erstrebenswert,
sondern eine rechte Sichtweise derselben
Grays Sichtweise scheint auf dem ersten Blick von Fatalismus und Nihilismus geprägt. Doch in Wirklichkeit zeigt er nur, dass die kollektive Annahme einer – wo auch immer hinführenden – Entwicklung der Menschheit fatalistisch ist. Die säkularen Gesellschaften des Westens werden unterschwellig weiterhin von der Utopie des christlichen Dogmas dominiert, demzufolge die Menschheit einer Erlösung zustrebt und dass sie auf dem Weg dahin sich die Natur ihrem Willen zu unterwerfen hat.
Nicht-christliche Gesellschaften, so Gray, streben weder nach Erlösung auf Erden noch nach der Unterwerfung der Natur. Für Menschen, die dem Taoismus, Shintoismus, Hinduismus oder Buddhismus nahe stehen, ist nicht das Ändern der Welt erstrebenswert, sondern eine rechte Sichtweise derselben. Die STRAW DOGS werden damit indirekt zur sachlichen Religionskritik und bereiten den Übergang zu den WEISHEITSLEHREN.
Grays Buch kann den vor Fortschrittsgläubigkeit trunkenen Zeitgenossen ernüchtern. Mehr nicht – aber auch nicht weniger. Es liegt in der Hand des ernüchterten Lesers, den im Werk gesponnenen Faden weiterzuknüpfen. Denn die STRAW DOGS machen auch unruhig. Entweder ist wirklich alles sinnlos oder wenn es einen Sinn und Zweck gibt, kann der unmöglich auf der Ebene materieller Evolution liegen. Doch wo dann? Das wäre dann der Anfang einer Forschungsreise unter dem Motto MENSCH ERKENNE DICH SELBST.
Quelle: STRAW DOGS, Thoughts On Humans and Other Animals, by John Gray, London, 20022
(*) Text/Bild: Kô-Sen
- Übertragung aus dem Englischen durch Redaktion. Eine deutsche Übersetzung des Buches ist bei Klett-Cotta in Vorbereitung. ↩
- Bereits auf deutsch erschienen: POLITIK DER APOKALYPSE. Wie Religion die Welt in die Krise stürzt. (im Original: BLACK MASS – Apocalyptic Religion and the Death of Utopia, New York, 2007) ↩
Zuletzt aktualisiert: 24.10.2009 von Heinz Knotek