Vergleicht man die beiden großen Einweihungswerke aus West und Ost – Die Alchimische Hochzeit des Christian Rosenkreuz und das Avatamsaka-Sutra – muss man verblüfft feststellen, dass im Finale beider Werke ein spezieller Turm in Erscheinung tritt.
Ob der Schüler Sudhana mit Hilfe von Buddha Maitreya den Turm von Vairocana meistert oder der Pilger Christian Rosenkreuz mittels Göttlicher Jungfrau den Turm von Olympia – der anstrengende Aufstieg führt in die selbe EINE Freiheit. Bild: Ko-Sen
Beide Türme haben einen zum Verwechseln ähnlichen Symbolgehalt. In beiden Legenden muss der Kandidat – im Osten Sudhana, im Westen Christian Rosenkreuz (C. R.) – zuvor auf einer anstrengenden Pilgerreise in sich die für den Einlass notwendige Reife und Würde freigelegt haben.
Im Osten ist Buddha Maitreya der GROSSE EINWEIHER, der den Sucher Sudhana in den Turm geleitet, der hier „Schmuckkammer von Vairocana“ heißt. Im Westen ist die Göttliche Jungfrau die Führerin; der Kandidat hier trägt den Namen C. R. Der Mystiker Jan van Rijckenborgh bittet in seiner Interpretation der ALCHIMISCHEN HOCHZEIT den Leser um besondere Aufmerksamkeit, wenn in Kapitel 19 das finale Aufstiegswerk im Turm von Olympia seinen Lauf nimmt:
Wir bitten (um) Ihre größte Aufmerksamkeit, da am Ende des Fünften Tages der Schlüssel zu allem Folgenden zu finden ist. (1)
In seinem Kommentar zum Avatamsaka-Sutra beschreibt der Laien-Mönch und Mystiker Li Tongxuan (635–730) den Turm als Manifestation universellen erleuchteten WISSENS:
The building represents the universally enlightening knowledge of the substance and function of the real universe, working in various ways for the maximum benefit of living beings … Therefore Maitreya said its manifestation is produced from skill in means, from virtue and knowledge, it comes from nowhere and goes nowhere. These are all characteristics of presence in the midst of origination and destruction with knowledge of illusoriness. (2)
C. R. muss am Sechsten Tag im Turm mit Leitern, Seilen und Flügeln nach OBEN gelangen. Dabei sind erst zwei Stockwerke zu erklimmen und schließlich eine dritte Kammer in luftiger Höhe. Das soll die Überwindung der materiellen und astralen Bindungen symbolisieren.
… es ist eine … riesige Torheit zu versuchen, durch Training des stofflichen Körpers, mit dem stofflichen Körperorganen etwas von der Ätherwelt wahrzunehmen … So wie ein Ertrinkender nach Luft verlangt, so müssen Sie nach Licht verlangen… (1)
Rijckenborgh gibt damit eine Erklärung, was es mit den Flügeln auf sich hat, mit denen R. C. schließlich zur oberen Kammer aufsteigen kann. Nicht Kult und Training – Leiter und Seil – führen zum Ziel, sondern das hoch motivierte und entschlossene Streben nach LICHT verleiht die zum Aufstieg erforderlichen Flügel. Das Überwinden der stofflichen Ebene beschreibt Rijckenborghs chinesischer Mystiker-Kollege 1.200 Jahre vor ihm auf typisch bildhaft asiatische Weise.
Maitreya made a sound by snapping his fingers, and the door to the building opened up. Snapping the fingers has the meaning of dismissing material sense, sound has the meaning of stirring awake. When material sense is removed and attachment gone,, the door o knowledge spontaneously opens.
Once Sudhana had entered the building , the door then reclosed. Opening means the disappearances of delusion and the appearances of knowledge. Reclosing means that in knowledge there is no inside or outside, no exiting or entering, no delusion or enlightenment. This means wholly returning to the source. (2)
In beiden Werken führt die Meisterung des TURMES zu INTUITIVEM WISSEN, GÖTTLICHER WEISHEIT und Überwindung der Bindungen an die Materie. Was auf die Folgen der Meisterung der KUNDALINI, des Schlangefeuers, hinweist. Stärker verklausiert im Westen, wo ja Mystiker im Mittelalter von der Kirche mit dem Feuertod bedroht wurden. Ist also Sudhana der R. C. Asiens? Steckt etwa Buddha Maitreya hinter der Legende der mystischen Rosenkreuzer? Oder umgekehrt? Stecken die Rosenkreuzer hinter dem Hua-yen-Buddhismus, für deren Anhänger das Avatamsaka-Sutra ein heiliges Buch war? Sicher ist nur: Wenn sich Buddha Maitreya und Christian Rosenkreuz in unserem Mind treffen, tun sie das nicht zum ersten Mal. Kommen doch BEIDE aus der EINEN Quelle. Wie wir auch.
Anmerkungen
(1) DIE ALCHIMISCHE HOCHZEIT DES CHRISTIAN ROSENKREUZ (IV), J. v. Rijckenborg, Harlem, 1991
(2) THE FLOWER ORNAMENT SCRIPTURE, A Translation of the Avatamsaka Sutra, Thomas Cleary, Boston, 1993
Zuletzt aktualisiert: 21.03.2008 von Heinz Knotek