Serie: Gewalt in religiösen Schriften – Hinweis auf gewaltige Aufgaben
Würde man DIE REISE IN DEN WESTEN wörtlich auslegen, müsste man den Roman als jugendgefährdend verbieten. Denn ohne Pause wird dort auf Leben und Tod gekämpft. Heimtückische Monster lauern in allen Ecken und werden am Ende entweder zur Buße Laotse anvertraut oder schlicht zu Brei geschlagen.
Wu-k’ung weiß sich noch in der aussichtslosesten und bedrohlichsten Lage zu helfen. Er steht für den das Denk-Prinzip, Mind, manas. (*)
Nimmt man die Geschichte im Roman jedoch als ALLEGORIE, wird plötzlich eines der tiefgründigsten religiösen Werke daraus. Eine WIRKLICH heilige Schrift, die sich zugleich als cooles Kinderbuch eignet. Zwischen viel Jux und Tollerei finden Jugendliche IHREN Helden. Den zur Leerheit erwachten Affenkönig etwa: Wu-k’ung. Moralische Erziehung durch Lachen, sozusagen. Und ganz ohne Zwang zum Glaubensbekenntnis.
Sucher auf dem Pfad stolpern als Erstes
über ihre Sinnlichkeit
In Kapitel 14,
Der Mind-Affe kehrt zu Rechtmäßigkeit zurück; alle sechs Räuber verschwinden aus dem Blickfeld
spitzt sich das Thema GEWALT erstmalig dramatisch zu. Wu-k’ung wurde kurz zuvor von der Bürde des „Gebirges der Fünf Wandlungsphasen“ erlöst – von Tripitaka, dem buddhistischen Pilgermönch, auf dem Weg zu den buddhistischen Schriften im Westen. Das Gebirge wurde dem Affenkönig einst als Strafe für sein rebellisches Verhalten im Himmel aufgeladen. Mit der unerwarteten Erlösung ist jedoch ein Deal verbunden. Wu-k’ung muss selbst Teil der Reisegruppe um den Pilgermönch werden und diese auf ihrem Weg nach Westen beschützen.
Szenen aus THE JOURNEY TO THE WEST1
Kaum hat sich die Gruppe formiert, begegnen den Pilgern die SECHS RÄUBER, die auf vielfältige Weise erfolgreich versuchen, die Mitglieder der Reisegruppe zu manipulieren, auszunutzen und vom Weg abzubringen. Nur Wu-k’ung erkennt das falsche Spiel der Banditen. Ohne zu zögern oder lange Erklärungen richtet er unter ihnen ein Blutbad an. Die sechs Räuber präsentieren in buddhistischer Terminologie die sechs Sinneswahrnehmungen und die dazugehörigen Organe.
Sucher auf dem Pfad stolpern als Erstes über ihre Sinnlichkeit. Entweder sie frönen exzessiv dem Genuss oder sie kasteien sich hysterisch mit forcierter Enthaltsamkeit. Es geht nicht um viel oder wenig Essen, nicht um häufigen Sex oder keinen. Das DENKEN in diesen Kategorien muss ohne Rückstand ausradiert werden. Essen ist Essen, wenn es nötig ist und in Maßen. Sex ist Sex, wenn es nötig ist und in Maßen.
Die Reisebegleiter (*)
Das Massaker schockiert den Pilgermönch und die anderen Mitreisenden. Töten ist nicht buddhistisch. Stattdessen wäre Mitgefühl und Nachsicht angebracht gewesen. Selbst Kinder wissen jetzt, wenn sie das lesen: Der Mönch ist erweist sich damit als blindes (keine Hellsicht, wie Monkey) Huhn und Sprücheklopfer. Wirklich SEHEND ist nur Wu-k’ung. Wu-k’ung bedeutet nicht grundlos „Der zur Leerheit Erwachte.“
Nach 100 Kapiteln und glücklicher Rückkehr der Pilger nach China wird auch Tripitaka SEHEND sein. Das ist ja schließlich der Zweck einer Pilgerreise. Oder auch:
The Mind of the Buddha, and the Buddha Mind;
Both Mind and Buddha are important things2…
(*) Text/Bild: Kô-Sen
- Die Sequenzen eins bis drei beschreiben, wie das wilde MIND (=Monkey) durch die Last der Materie (Fünf-Wandlungsphasen-Gebirge = Inkarnation) gebändigt, aber auch gefangen wird. Der Pilgermönch (= Streben nach Befreiung mit Hilfe Buddha-Dharma) befreit das Mind (=Monkey). Doch fortan muss es reifen, sich bewähren, Erfahrungen sammeln (= Dharma).
Die vierte Sequenz handelt von dem Blutbad an den sechs Räubern. Hier erweist sich nun der Mönch als noch unreif. Denn er hat Mitleid mit Räubern, die doch nur eines im Sinn haben, IHN zu töten. ↩
- THE JOURNEY TO THE WEST, Translated and Edited by Anthony C. Yu, Chicagon 1977 ↩
Zuletzt aktualisiert: 26.02.2012 von Heinz Knotek