Er ist DIE Attraktion der Domanlage in Merseburg. Oder besser, SIE sind es. Aber beim Besuch war ER es, der einen ehrfurchtsvoll staunen lässt. Als ob die Rabengattin sich ihrer Nebenrolle taktvoll bewusst wäre, hielt sie sich im Hintergrund der großen Voliere.
Der Rabe von Merseburg – in Wirklichkeit ein Weiser? Bild: Kô-Sen
Eigentlich sitzt das arme Vieh zur Strafe hier. Eine Art stellvertretende Sühne für einen Diebstahl den ein Artgenossen im 15. Jahrhundert vermeintlich begangen haben soll. Doch steht man dem Raben nur eine halbe Armlänge entfernt Auge in Auge gegenüber, getrennt lediglich durch eine kaum wahrnehmbare dicke Scheibe, kommt einem nicht jene Sage in den Sinn. Sondern die, wonach der Rabe Sinnbild für einen verkörperten Weisen ist.
Frei von Sehnsucht nach einem Leben
auf der anderen Seite des Gitters
Im Buch 39 des Avatamsaka-Sutra, Eingang in das Reich der Realität1, erläutert die jungfräuliche Gopa dem Pilgerjungen Sudhana in einem Vers, wie sich ein wirklicher Weise gegenüber den Zwängen der Welt verhält:
Seeing people revolve in the rut of existence,
The wise stand opposed to the flow of the mundane whirl;
Developing the measureless wheel of the true teaching,
They practice universal higher goodness and wisdom2. (*)
Der Rabe von Merseburg ist wie der von Gopa beschriebene Weise. Er ist gefangen, doch frei von Sehnsucht nach einem Leben auf der anderen Seite des Gitters. Seren lässt er die lächerlichen Grimassen und provokant abrupten Bewegungen des Besuchers vor seinem scharfen Schnabel geschehen. Er streift die Erscheinung lediglich mit einem Blick aus dem leicht schräg gestellten Kopf. Dann schaltet sich der Blick wieder auf unendlich. Der Wind spielt mit dem Gefieder. Die ganze Erscheinung strahlt eine ehrfürchtig machende menschliche Wärme aus. Dabei ist der Rabe doch „nur“ ein Tier! Gopa sagt dann noch:
Those who learn these infinite principles,
Appearing in the world according to people’s mentalities,
With their own bodies like refected images,
Develop people in the ocean of being3. (*)
Hat sich etwa jemand, der die unendlichen Prinzipien durchdrungen hat zur Belehrung des Besuchers in dem Körper eines Raben reflektiert? (Kô-Sen)
The Alan Parson Project – The Raven4
(*) Quelle: The Flower Ornament Scripture, A Translation of The Avatamsaka Sutra , Thomas Cleary, Boston, 1993
- In englischer Originalübersetzung aus dem Chinesischen: Entry into the Realm of Reality. ↩
- Sehend, wie die Menschen in eingefahrenen Gleisen rotieren,
Stehen die Weisen abseits des Flusses irdischer Strudel;
Sie pflegen das unschätzbare Rad der wahren Lehre,
dabei universelle höhere Tugend und Weisheit praktiziered. (Redaktion) ↩ - Diejenigen, die diese unendlichen Prinzipien durchdringen,
Erscheinen in der Welt je nach Mentalität der Leute,
Mit ihren Reflexionen gleichenden Körpern,
belehren sie die Menschen im Ozean des Seins. (Redaktion) ↩ - Gemäß der Mentalität der Leute erscheinen… kann auch bedeuten, sie mit einem SCHRECK aufzurütteln. ↩
Zuletzt aktualisiert: 02.05.2009 von Heinz Knotek