Cover: Harper-
San Francisco
Den chinesischen Klassiker, DAS GEHEIMNIS DER GOLDENEN BLÜTE, gab es im Westen zuerst in Deutsch. Und das bereits seit 1929. Ein halbes Jahrhundert musste fast automatisch jeder SUCHER bei diesem Buch landen. Geht es dabei doch um chinesische Mystik. Allerdings nur, wie sie der christliche Missionar Richard Wilhelm mit seinen begrenzten Kenntnissen des Chinesischen verstand. Hinzu kam ein intellektuelles Sahnehäubchen. Der „Erfinder“ der PSYCOHOLOGIE DES UNBEWUSSTEN, C. G. Jung, ein mit seinen Theorien sich erfolgreich als Psychologe vermarktender Arzt, versah Wilhelms Übersetzung mit einer „Einführung,“ die bis heute als bahnbrechend und gelehrt gilt. Erst in den 1990er Jahren kam heraus: Die Übersetzung ist offenbar irreführend und Jungs Vorwort zeigt lediglich, dass er MYSTIK vielleicht gern erlebt hätte, aber nicht hat.
Im Jahre 1991 erschien „THE SECRET OF THE GOLDEN FLOWER – The Classic Chinese Book of Life,“ als „authoritive new translation“ von Thomas Cleary. Anders als Wilhelm, der als Missionar von Amts wegen Land und Leute durch die Brille christlicher Weltdeutung sehen musste, ist Cleary ein Sinologe, der die chinesische Kultur nicht nur als OBJEKT wissenschaftlicher Untersuchung – und grundsätzlich nicht aus missionarischen Gründen – behandelt. Es ist evident, dass Cleary die asiatischen Schriften, die zahlreich von ihm ins Englische übertragen wurden, zuvor selbst INNERLICH zu erfassen suchte. Voraussetzung waren umgangssprachliche Kenntnisse von Sprachen und Dialekten und – wie der Autor dezent in seinem Nachwort zur GOLDENEN BLÜTE andeutet – persönlicher Kontakt zu lebenden Adepten des Taoismus.
Gedankenkraft und Willensstärke – Schlüssel für die Transfiguration
Auch Wilhelm und Jung hatten ansatzweise realisiert, dass die GOLDBLÜTE ein Manual taoistischer Alchemie ist, in der Praktiken unterschiedlicher Schulen des chinesischen Taoismus und Buddhismus kombiniert werden. Diese Vielfalt erwies sich jedoch für beide als eher hinderlich:
The main difficulty of the original work is that it uses Taoist alchemical language mixed with several types of Buddhist Chinese. This undoubtedly caused Wilhelm confusion, because there were no facilities for teaching theses languages and symbol systems to Westerners at that time. On comparison with the canonical version of the original Chinese text, it became clear that Wilhelm had misconstrued the text on many points, and this translation was unreliable.
(aus: Thomas Cleary, Translator’s Afterword: Modern Applications of the Golden Flower Method)
Bei der GOLDENEN BLÜTE handelt es sich um eine METHODE, das Mind in den Griff zu bekommen. Üblicherweise ist es umgekehrt, hat stattdessen das Mind uns im Griff. Schon der okkulte Schriftsteller Gustav Meyrink (1868 – 1932) riet einst einem Leser, sich mit der GOLDENEN BLÜTE zu beschäftigen. Das Buch könne helfen, sich aus dem Zwang wiederholter Inkarnation zu befreien. Meyrink wusste, dass das Mind – oder das Denkprinzip (manas in Sanskrit) – das verbindende Element zwischen Geist und Materie ist. Das unbeherrschte Denken bindet den Menschen an Materie und Astralwelt. Gelingt es hingegen, das Mind BEWUSST zu steuern, verlieren auch die Bindungskräfte von Materie und Astralwelt ihre Kraft. Bleibt ein Sucher diesem Weg treu, kann er dem gezwungenermaßen Inkarnieren entkommen.
Umkehren des Lichtes (Turn around the Light)
Zentrale „Übung“ des Werkes ist das UMKEHREN DES LICHTES. Schon Buddha soll gesagt haben, „dein Mind erschafft die Welt.“ Genau hier setzt die Praxis der GOLDENEN BLÜTE an. Betrachtet man das von uns wahrgenommene materielle Dasein als eine fortgesetzte Projektion der Denktätigkeit, eine inzwischen auch von Neurowissenschaftlern verwendet These, muss das schlichte UMKEHREN dieses Projizierens direkt zur QUELLE der Projektion führen. Für Chinesen mag das zum Tao führen, für den Christen zu Gott, für den Buddhisten zu Atma, für den Rosenkreuzer zur Transfiguration.
Doch das Konzentrieren ist – grundsätzlich – leichter gesagt als getan, wie jeder an sich selbst testen kann. Man möge sich etwa beim täglichen Duschen die ganze Zeit auf NICHTS anderes als den Duschkopf konzentrieren. Das wird bestenfalls wenige Sekunden gelingen. Dann schweift das Denken unaufhaltsam ab. Wenn man schon ein greifbares Objekt, wie den Duschkopf, nicht bewusst im Mind halten kann, wie dann erst subtile Dinge, wie GOTT, das SELBST, BUDDHA oder CHRISTUS – ganz zu scheigen von LEERE oder SOSEIN?
Man ahnt es: Von ersten Überlegungen dieser Art bis zur Meisterschaft über das Mind ist es ein langer Weg. Kaum in einer Lebensspanne zu absolvieren. Das ist aber nicht schlimm. Ist doch das Konzept von Raum und Zeit selbst Teil der illusorischen Projektion, in einem höheren Sinne UNWIRKLICH, also Maya.
Dennoch ist die Praxis der GOLDENEN BLÜTE von höchster Effektivität auch und gerade für das vermeintlich lediglich projizierte Dasein. Es ist ein weiterer Verdienst von Cleary, dass er neben der authentischen Neuübersetzung des Werkes auch Möglichkeiten für den heilsamen therapeutischen Einsatz der Methode skizziert.
Wilhelm und Jung – Kinder ihrer Zeit
Thomas Cleary hat augenscheinlich kein Interesse an einem Showdown mit den Anhängern des Jung-Kultes oder der Gemeinde von Literatur- und Religionswissenschaftlern, die ihre Arbeitszeit mit würdigenden und bestätigenden Analysen der Wilhelm-Übertragung verbringen. Cleary geht einfach zu den Quellen und ergründet die originalen Schriften selbst. Und weist lediglich nachträglich (Nachwort) im Interesse Suchender auf Tatsachen und Fakten hin, warum Wilhelms Buch irreführend ist, wenn man es PRAKTISCH, nicht nur literaturwissenschaftlich, annimmt. Dazu gehört auch, dass er auf die Tatsache verweist, dass Wilhelm und Jung wesentlich von den in den 1920er Jahren herrschenden Vorstellungen über östliche Kultur geprägt waren. Wilhelm und Jung waren also keine Irreführer. Lediglich Kinder ihrer Zeit. Und ohne Einschränkung gebührt Wilhelm Dank und Anerkennung dafür, dass er den chinesischen Text ÜBERHAUPT dem westlichen Kulturkreis zugänglich gemacht hat (w.)
Thomas Cleary, THE SECRET OF THE GOLDEN FLOWER, The Classic Chinese Book of Life, HarperSanFranzisco, 154 S.
Zuletzt aktualisiert: 15.02.2011 von Heinz Knotek