Wer würde nicht gern wissen, wo man herkommt und welche Menschen einem einmal lieb und teuer waren. Die Weisheitslehren warnen aber davor, diesem Begehren nachzugeben. Kaum sind wir imstande das Leben im Hier und Jetzt mit all seinen Facetten zu bewältigen. Wie erst wollen wir es dann schaffen, außerdem noch mit den Verstrickungen und Verknüpfungen aus zurückliegenden Inkarnationen klar zu kommen?
Neugeboren oder wiedergeboren? Foto: privat
Der Hollywoodfilm BIRTH (Regie: Jonathan Glazer, Produktion: Warner Bros. Entertainment, 2004) erzählt eindringlich, wie das ohnehin komplizierte Leben in der modernen westlichen Welt gänzlich aus den Fugen gerät, wenn plötzlich die Vergangenheit in die Gegenwart einbricht. Etwa, wenn ein zehnjähriger Junge in eine Hochzeitsvorbereitung hineinplatzt und behauptet der liebende Mann der Braut zu sein – der allerdings vor zehn Jahren verstorben ist.
Toter Ehemann im neuen Körper
Zehn Jahre hat es gedauert, bis Anna (Nicole Kidman), eine attraktive Frau Ende 30, den Tod ihres geliebten Ehemanns soweit verkraftet hat, dass sie für eine neue Ehe bereit ist. Auch nach zehn Jahren kämpft sie am Grab des toten Geliebten noch mit den Tränen. Jetzt aber will sie auf das langjährige Werben ihres Freundes Joseph (Danny Huston) eingehen und ihn heiraten. Da taucht Sean auf, ein zehnjähriger Junge (Cameron Bright). Hartnäckig und mit verblüffendem Selbstbewusstsein will er Anna unter vier Augen sprechen. In der Küche eröffnet er ihr, dass ER Sean ist – SEAN ihr toter Ehemann im neuen Körper.
Zunächst glauben alle, es entweder mit einem extrem frechen oder psychisch gestörten Kind zu tun zu haben. Doch nicht nur übersteht Sean alle Tests. Er gibt fehlerfrei Details „seiner“ früheren Gewohnheiten wieder, die er unmöglich aus anderer Quelle als aus eigener Erfahrung wissen kann: So erkennt er wie selbstverständlich „seinen“ alten Schreibtisch und erwähnt ein grünes Sofa, auf dem er es „mit Anna getrieben hat“. Zugleich lässt er seine Eltern wissen, sie mögen ihn gefälligst nicht länger als kleines Kind behandeln.
Szene aus BIRTH
Als Anna innerlich aufgewühlt versucht, den Jungen schroff abzuweisen, bricht er zusammen. Von da ab ist klar: Er ist kein dreister Frechling und auch nicht verwirrt. So unglaublich es scheinen mag – an der Geschichte muss etwas Wahres dran sein. Jetzt, da sich die Vergangenheit in Annas Gegenwart gedrängt hat, brechen die alte Sehnsucht und das alte Leid über den Tod des Partners wieder auf. Anna gerät in einen Strudel, dem sie sich nicht mehr entziehen kann.
Methaphysische Liebesgeschichte
versus Kindesmissbrauch?
Ein Höhepunkt der kammerspielartigen Inszenierung ist die Badewannenszene. Anna hat inzwischen jeden Zweifel und Widerstand aufgegeben. Zunehmend identifiziert sie sich auf bedrohliche Weise mit der These, dass das Kind eigentlich ihr Ehemann ist. Anna sitzt in der Badewanne. Sean betritt das Bad, entkleidet sich wie selbstverständlich und steigt zu Anna ins Wasser. Die Spannung ist fast unerträglich. Wird jetzt das Ungeheuerliche passieren? Ausgerechnet in dieser hocherotischen Situation spricht Anna über ihre Bedürfnisse als Frau. Das Kind bekennt – selbstverständlich – dass Anna seine Erste wäre. Die Kamera zoomt die Gesichter dicht heran. Die Augen von Sean bleiben die ganze Zeit geradeaus gerichtet – in die Augen von Anna. Kein wandernder Blick über den nackten weiblichen Körper vor ihm. Und Anna? Ihre alte Verliebtheit ist wieder voll entflammt. Wird sie die Hand heben und das nackte Kind vor ihr wie einen Liebhaber berühren? Da bricht sie Szene ab, lässt den Betrachter mit seinen Konzepten und Vorstellungen allein.
Das Gemeinsame füherer und jetziger Blätter ist der Baum. (*)
Zunächst bleibt offen, wie es in der Badewanne weiter ging. Genau das wurde im prüden Amerika dem Film vorgeworfen. Die subtilen Andeutungen der metaphysischen Liebesgeschichte wurden mit Kindsmissbrauch und Pädophilie assoziiert, trotz der Versicherung, die Darsteller wären mit Ganzkörperanzügen in der Wanne gewesen. Offenbar bleibt das gemeinsame Bad ohne Folgen. Die Szene deutet eine differenzierte Antwort auf die Frage an, wie es dazu kommen kann, dass sich Erwachsene zu Kindern hingezogen fühlen und umgekehrt1.
Von aufklärerischer Bedeutung
Nicht in jedem Fall sind dabei krankhafte Neigungen der Grund. Immer wieder gibt es Gerichtsurteile die belegen, dass eine Liebesbeziehung zwischen Minderjährigen und Erwachsenen tatsächlich aus Zuneigung zustande kam, dass weder Gewalt im Spiel war noch von einem Missbrauch die Rede sein kann. Die Verurteilung, in der Regel zur Mindeststrafe, erfolgt dann ausschließlich aufgrund der generellen Strafbarkeit sexueller Kontakte. BIRTH zeigt auf eindringliche Weise, welch hohe Verantwortung dem erwachsenen Part einer solchen Beziehung zukommt. Gerade wenn es Liebe ist, muss sich dieser vollkommen zurückhalten. Dass das unter Umständen nur unter großen Anstrengungen möglich ist, reflektiert die Badewannenszene eindrucksvoll. Indem der Film Reinkarnation als objektive Tatsache präsentiert, liefert er eine rational nachvollziehbare These, warum es zur Anziehung der beschrieben Art kommen kann. Damit kommt dem Film in einer materialistisch und religiös-dogmatisch geprägten Gesellschaft eine geradezu aufklärerische Bedeutung zu.
Der Folge weiterer dramatischer Zuspitzungen zum Trotz hat der Film ein einigermaßen Happy End. Dabei ist die Auflösung des Dramas wie der Verlauf der Handlung selbst voll spiritueller Andeutungen. Die Vermischung von Vergangenheit und Gegenwart wird gekappt. OHNE dabei die Tatsache der Wiedergeburt zu leugnen oder in Frage zu stellen. Ganz im Gegenteil – wie der Betrachter feststellen wird.
Auf der Website zum Film2 entwickelt sich bezeichnenderweise ein Baum mit herbstlichen Blättern zur Navigation. In den Weisheitslehren wird die einzelne Inkarnation als Blatt am „Baum des Lebens“ gedeutet. Das Blatt wächst, wird welk, stirbt ab. Der Baum aber lebt und wächst mit jeder neuen Serie an Blättern. Das Gemeinsame der Blätter ist nicht das Sein im Blatt. Sondern der EINE BAUM.
(*) Bild/Text: Heinz Knotek
- Der Film berührt hier leider nur einseitig den partnerschaftlichen Aspekt einer Affinität zwischen Kind und Erwachsenen. Dabei sind eine Reihe weiterer Kombinationen denkbar und vermutlich eher verbreitet, zum Beispiel Kind – Vater/Mutter, Schüler – Lehrer (jeweils auch vice versa), Geschwister, enge freundschaftliche Gefährten. ↩
- Offizielle deutsche Website zum Film ↩
Zuletzt aktualisiert: 14.09.2011 von Heinz Knotek