Kommt in unserem – westlichen, also christlichen – Kulturkreis die „Seele“ zur Sprache, was sie ist, wie sie entsteht und was aus ihr wird – ja wo überhaupt sie sich befindet, wenn sie denn existiert – dann wird es entweder erhaben feierlich oder man zuckt gleichgültig mit der Schulter. Nihilisten lächeln spöttisch.
Nach einer langen Serie von Inkarnationen beginnt der Seelenfunken sich seiner BEWUSST zu werden. Er versucht der Materie zu entsteigen und sich dem eigenen göttlichen Ursprung zuzuwenden. Langsam bekommt die Seele ein Gesicht – die Auferstehung zur Unsterblichkeit und wahren Individualität. Abb.: S. Trismosin, Splendor solis, 16. Jh. (Detail), Privatbesitz
Die Erhabenen – in der Regel sich für gute Christen haltende Gläubige – zitieren die Bibel und erklären ihre Unwissenheit kurzerhand zum Mysterium. Die Schulterzucker nennen sich Atheisten. Ihr Glauben heißt „nur glauben, was man anfassen kann“. Nihilisten ähneln den Erhabenen. Sie kleiden ihre Unwissenheit in Begriffe, nur andere. Die Existenz einer Seele wird von ihnen vehement verneint. Für sie gibt es nichts, worüber man etwas wissen könnte. Wer ernsthaft etwas über die SEELE wissen will, muss sich trauen, hinter den Schleier der Formen zu suchen. Und den Blick zu weiten.
Rein stoffliche Sichtweise auf etwas,
das per se nicht stofflich sein kann
Jacob Böhme: „Die Seele ist Feuerauge,
oder ein Feuerspiegel, darin sich die
Gottheit hat geoffenbaret… Sie ist ein
hungrig Feuer und muss Wesenheit
haben, sonst wird sie ein hungrig
finster Tal…“ Abb.: Jacob Böhme,
Theosophische Wercke, 1682
(Privatbesitz)
Allen westlichen Konzepten von Seele sind zwei Dinge gemeinsam. Sie sind eine rein stoffliche Sichtweise auf etwas, das per se nicht stofflich sein kann und es ist keinerlei Einflussnahme des Menschen auf „seine“ Seele vorgesehen. „Seine“ Seele ist dem Menschen somit gar nicht wirklich etwas ihm Eigenes. Alle Erhabenheit einer seelischen Sichtweise wird dem Menschen damit genommen. Es bleibt nur ein kleinlautes Hinnehmen einer These, die mit fast jedem ihrer Aspekte gegen alle möglichen Naturgesetze verstößt. Da das eigene Tun keinen erkennbaren Einfluss auf Beschaffenheit und Zukunft der Seele hat, geht darüber hinaus keinerlei moralisierende Wirkung von der Annahme ihrer Existenz und dem Glauben an sie aus.
Ein anthropomorpher Gott – so in Etwa die dogmatische Theorie – bastelt nicht nur angeblich jede Seele in Einzelfertigung. Er packt sie zudem in zumeist leidvolle – in jedem Fall aber ungerechte – Umstände, um sie dann auf nicht nachvollziehbare Weise früher oder später zurückzuholen. Wobei dem ganzen Prozess kein rechter logischer Sinn zu entnehmen ist, außer, dass dem lieben Gott langweilig ist oder er solcher Dinge bedarf, um sich seiner selbst gewahr zu werden. Im Menschenreich kennt man solches Profilierungsverhalten vor allem in der Pubertät. Ein personalisierter Gott aber würde damit seiner Göttlichkeit widersprechen.
Chance, sich zu einer selbstbewussten Entität zu entfalten
Der Mensch baut sich sein unsterbliches Seelengewand selbst. In den Weisheitslehren wird SEELE als eine Art immaterieller Energiefunken göttlichen Ursprungs verstanden, der in einem langen Zyklus von Inkarnationen die Chance hat, sich zu einer selbstbewussten Entität zu entfalten. Diese Entität besteht nicht aus Materie, sondern aus „mentaler Energie“. Gelingt es einem Menschen, sein Denken dauerhaft auf „seinen“ göttlichen Ursprung zu fokussieren, verbunden mit einer von unpersönlichem Altruismus geprägten und begierdelosen Lebenshaltung, erreicht er die Unsterblichkeit. Unsterblichkeit der Seele ist schlicht und einfach selbstbewusstes Sein; unabhängig von materieller Existenz.
Schwarze Sonne – Sinnbild der äußeren
materiellen Sonne. Aus seelischer Sicht
ist alles Materielle dunkel. Abb.: S. Tris-
mosin, Splendor solis, 16. Jh. (Detail),
Privatbesitz
Das Problem: Wer seine Emotionen und sein Denken NIEMALS bewusst auf seinen unsterblichen zunächst jedoch nicht selbstbewussten Seelenfunken lenkt, weil es ja angeblich nichts gibt wohin zu lenken es lohnen würde, wird dort auch kein bewusstes Sein, also keine gestaltende „mentale Energie“, ansammeln. Der Seelenfunken bleibt beim physischen Tod wie er bei der Geburt im Körper war – sich seiner selbst unbewusst. Materialisten und Anhänger dogmatischer Glaubensbekenntnisse ereilt daher dasselbe Schicksal. Ihnen droht auf lange Sicht der Verlust des Geburtsrechts auf Unsterblichkeit.
Religionssysteme, die dem Menschen den Himmel auf Erden suggerieren – oder illusorisches irdisches Glück im Himmel – führen die unreife Seele in die Irre und binden sie damit an eben diese illusorische Erde. Der Zugang zu seinen inneren Chancen und Potentialen, die der materiellen Existenz der Seele erst einen erhabenen und höheren Sinn geben, wie
- tatsächliche Auferstehung zur Unsterblichkeit,
- Erlösung vom Rad der Wiedergeburt und
- Freiheit vom reflexartigen Zwang zu Inkarnation im Stoff,
wird dem Menschen dadurch verwehrt. In dem Artikel „On Living the Higher Life1“ wird dieser Aspekt auf den Punkt gebracht:
It is the material aspects of man that bend the power of his intellection to their own uses. Many a man lives and dies in no way wiser to universality than when he was born. He could not ascend because for him there was not even a glimpse of a possibility to ascend. It never entered his mind nor bothered his self-assessment …
That there is a purpose to evolution cannot be denied. That man has an important part to play in it is evident. It is not so evident to most that this destined part has been delineated for hom in the archetype of which men are but types …
It is a failing of humanity that, living in darkness and becoming familiar with its shadows, it calls the night the day. If man believes himself full of light, it but follows that he will not exert himself to go in ist search, and thus we have the singular phenomenon of long processions of the blind led by one who exults in his own blinddess. The teachings of the Wise are brushed aside as not appropriate to the age, and so the orthdoxy of science and the superstitious fanaticism of religion sit enthroned in the seats of power. Only the very few have the courage to break away and to declare that this is not day but night, dark and still and starless, where each shadow comes to mock our cowardice…
(HEINZ KNOTEK)
- THE THEOSOPHICAL MOVEMENT, Vol. 2; June 2010; Mumbai, India ↩
Zuletzt aktualisiert: 27.11.2011 von Heinz Knotek