Wie ist aus theosophischer Sicht das buddhistische Konzept der „rechten Achtsamkeit“ zu verstehen1?
Grundsätzlich bedeutet „rechte Achtsamkeit“ oder „rechtes Gewahrsein,“ dass man sich seines Umfelds, der eigenen Handlungen und Gedanken sowie seines mentalen Zustandes jederzeit bewusst ist. Auf einer tieferen Ebene steht das Konzept für die Bewusstmachung des eigenen mentalen Prozesses. Für spirituelles Streben reicht Gutherzigkeit allein nicht aus. Der Aspirant muss vor allem seinen mentalen Prozess wachsam im Auge behalten, wenn er nicht eines Tages feststellen will, dass sein Mind in Spurrinnen geraten ist.
Rechte Achtsamkeit – unter anderem Voraussetzung dafür, dass sich der GENIUS offenbaren und entfalten kann. Bild: Kô-sen
Dann mag er etwa entdecken, in bestimmten Situationen schablonenhaft immer gleich zu reagieren oder bei speziellen Fragen reflexartig auf stereotype Antworten fixiert zu sein. Auf diese Weise schafft er sich mentale Spurrinnen. Der meditierende Mensch ist hingegen stets bemüht Neuland zu betreten. Er ist bereit, die Dinge immer wieder mit anderen Augen oder aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Mentale Tiefe lässt sich nur dadurch erlangen, dass wir uns nicht mit der erst besten Antwort zufrieden geben, die uns in den Sinn kommt. Dazu gehört, immer wieder zu prüfen, ob die angenommenen Voraussetzungen nicht in die falsche Richtung führen.
Über den eigenen mentalen Prozess zu wachen,
bedeutet sich selbst kritisch zu prüfen
Ein Beispiel. Jemand scheut persönliche Verantwortung und gibt sich daher mit dem Glauben zufrieden, unsere Sünden wären mit dem Blut Christi gewaschen worden. Dann wird ihm auch der Glaube an einen persönlichen Gott gefallen, denn den kann er anbeten und um Gnade bitten. Da solche Konzepte seine tiefsten Wünsche bedienen, wird er nicht bereit sein, seine Vorstellungen kritisch zu überprüfen. Eine solche Person wünscht nichts anderes, als der vorgegebenen Gedankenspur zu folgen. Er hat keinerlei Bedürfnis, sie in Frage zu stellen oder wenigstens zu hinterfragen. Das ist eine von tamas geprägte Haltung. Über den eigenen mentalen Prozess zu wachen, bedeutet sich selbst kritisch zu prüfen. Außerdem die Bereitschaft, Neigungen und Vorurteile aufzugeben sowie den Glauben und vorgefasste Meinungen in Frage zu stellen.
Rechte Achtsamkeit. Bild: Kô-Sen
Schon THROUGH THE GATES OF GOLD hat darauf hingewiesen, dass man auch durch Religion und Tugendhaftigkeit in einen Trott geraten kann. Die Fixierung auf eine bestimmte Art von Tugendhaftigkeit hat bindende Wirkung und kann zur starren Gewohnheit werden. In dem Artikel, „Breaking the Moulds of Thought2,“ wurden mögliche Folgen einer rigiden Pünktlichkeit aufgezeichnet: Der Betreffende wird am Ende Sklave der Tugend statt Meister derselben. Kann er dann einmal seine Gewohnheiten nicht wie gewohnt frönen, fühlt er sich verloren.
Damit ein Motor rund laufen kann, muss den einzelnen Teilen ein gewisses Maß an Spielraum zugestanden werden. Flexibilität und Anpassungsfähigkeit sind gefordert. Mr. Judge hat einmal darauf hingewiesen, dass jedes Mind seine eigene Spurrille bildet und nicht ohne weiteres bereit ist, der Spurrille eines anderen Mind zu folgen. Gerade so, wie der Spurkranz der Räder einer Lokomotive mit ganz bestimmter Radbreite nicht zu breiteren oder engeren Schienen passt. Entferne den Kranz, gestalte das Rad flexibel genug, und es ist auf allen Spuren lauffähig ist3. Die menschliche Natur ist mit einer Lokomotive vergleichbar. Der Sucher auf dem Pfad hingegen hat seinen „mentalen Spurkranz“ weit und flexibel zu halten, so dass sein Mind mit dem Mind anderer und der Natur gut zusammenpasst.
Plötzlich denken wir über völlig irrelevante Dinge nach
Das Mind wird gern mit einem Spiegel verglichen, der im Laufe der Zeit Staub ansetzt – den Staub irriger Ansichten, Neigungen, Begierden und Vorlieben. Man muss sich dessen Existenz bewusst werden und ihn entfernen. Über seinen mentalen Prozess zu wachen beugt auch der Tendenz vor, sich mit Nebensächlichkeiten zu verzetteln. So mag irgendwer etwas über H.P.B. äußern und uns kommt Russland, eine Flugreise oder sonst etwas in den Sinn. Plötzlich denken wir über völlig irrelevante Dinge nach. Sind wir hingegen wachsam, fällt uns schnell auf, wenn unser Mind aus dem Ruder läuft…
Rechte Achtsamkeit – um das Richtige im richtigen Moment zu tun.
Bild: Kô-Sen
Es ist gut, über ein fragendes und reflektierendes Mind zu verfügen. Es ist wichtig, Fragen zu stellen. Doch genau so wichtig ist es zu versuchen, SELBST Antworten zu finden. Überflüssige Fragen müssen vermieden werden. Durch überflüssiges Fragen ziehen wir das Mind anderer Personen herab und verursachen bei ihnen ein Abfließen von Lebenskraft. Für die Suche von Antworten auf unsere Fragen haben wir unsere eigene Zeit und Lebenskraft zu opfern.
Fertige Antworten sind wie Goldnuggets, die uns ein Bergarbeiter aushändigt. Sie sagen nichts über den PROZESS des Grabens aus. Unterziehen wir uns aber selbst der Anstrengung, aus dem Fels und Geröll des Mind das Wissen eigenhändig herauszugraben, wird uns der Inhalt des Mind bewusst werden – ganz gleich ob dabei Nützliches oder Nutzloses zu Tage kommt – und eben auch der mentale Prozess.
(Übertragung aus dem Englischen von Kô-Sen, mit freundlicher Genehmigung von U.L.T. Mumbai )
Question: How does one understand the Buddhist concept of “Right Mindfulness” in the theosophical context?
For our English readers with the permission of U.L.T. Mumbai
Generally, “Right Mindfulness” or “Right Awareness” means becoming aware of one’s surrounding, actions, and contents of one’s mind. At a deeper level, it implies becoming aware of one’s mental processes. It is very important for a spiritual aspirant not only to be good-hearted, but also to study his own mental processes, else some day he might find that he uses his mind in one track. He may discover that perhaps he gives the same fixed response to a given situation or fixed answer to a given question, thus forming mental grooves. A man of meditation, on the other hand, is one who always tries to cut fresh path and is willing to have a fresh look at the matter. We can acquire depth of mind only when we are not willing to be satisfied with the first answer that comes to our mind. Such a person may neglect to check his premises, which, if they are incorrect, are bound to lead to wrong conclusions. For instance, if a person believes in a personal God who rules the world according to his own whim and fancy, then his conclusion would be that such a God must be prayed to, and propitiated. If a person believes that the scriptures are sacred, infallible and are the final authority, then he would have blind obedience to the scriptures. We can see that such a person may continue his wrong way of thinking because it suits him. For instance, it suits him to believe that our sins are washed in the blood of Christ, because he wants to avoid personal responsibility. Likewise, it suits him to believe in a personal God so that he could pray and ask for favours. He is unwilling to give up these ideas as it caters to his inner desires. Such a person desires to go along his own road of thought, for to change it is unpleasant because difficult to begin. He does not want to question them. This is tamasic behaviour. To watch mental processes one needs to undertake critical self-examination, to eliminate one’s biases and prejudices, question one’s beliefs and preconceptions.
As pointed out in Through the Gates of Gold, religion and virtue often makes a man fall into a rut. By the practice of virtue he will fetter himself into one groove, one changeless fashion of life in matter. In the article, “Breaking the Moulds of Thought,” (The Theosophical Movement, Vol. 18) we are told that a person who practises a virtue of punctuality very rigidly, at last, becomes a slave to that virtue instead of being the master of it. If one day he is unable to follow his set routine he is at a loss. For the smooth functioning of a machine we must allow leeway between the parts. There must be flexibility and adaptability. Mr. Judge points out that each mind has a groove, and it is not willing to run in the natural groove of another mind. It is like the flanged wheel of the engine running on a track of a particular size. It cannot run on a broader or narrower gauge and is confined to a single track. Take off the flange, and make the face of the wheel broader and then it can run on any track. General human nature is like the engine. But the occultist or the would-be occultist has to take off the flange and have a broad-faced wheel that will accommodate itself to other minds and natures.
Mind is considered to be a mirror, which gathers dust while it reflects—the dust of false ideas, biases, desires, and predilections. One has to be aware of their existence to get rid of them. Watching the mental processes would also help one to curb the tendency to go off at a tangent. Someone may say something about H.P.B. and we are reminded of Russia and then of the aeroplane journey to another country, and so on. We might start thinking of totally irrelevant matter in no time. If we are watchful, we see that we are going off the track. In fact, to make our mind creative, an author suggests that in small matters like thinking about the gift to be given to someone, we must discard the initial three or four alternatives that present themselves, then we are likely to hit upon something novel.
It is very essential to know if we have an inquiring and reflecting mind. It is important to ask questions, but it is equally important that we find the answers ourselves. We must avoid asking unnecessary questions. By unnecessary questions we make another person drag his mind to mundane level and waste his vitality. We must spend our own time and vitality in searching for the answer. Getting a ready answer is like a miner giving a nugget of gold and that is all we get at that time. But when we make an effort, or dig out the knowledge, we drag out of our mind rocks and debris and thus become aware of contents of our mind—useful or useless, as also of our mental processes.
(THE THEOSOPHICAL MOVEMENT, June 2009)
- THE THEOSOPHICAL MOVEMENT, JUNE 2009, Questions & Answers ↩
- THE THEOSOPHICAL MOVEMENT, Vol. 18 ↩
- Wobei die Metapher natürlich nicht als technischer Aspekt misszuverstehen ist. Denn für die Lokomotive ist der fixierte Spurkranz die Voraussetzung dafür, überhaupt sicher in der Spur bleiben zu können. Anders als im Mind ist Fixierung hier gewünscht und notwendig. ↩
Zuletzt aktualisiert: 07.10.2009 von Heinz Knotek