Das Bodhisattva-Gelübde besteht – vereinfacht ausgedrückt – aus dem Gelöbnis, sich auch dann freiwillig zu inkarnieren, wenn man es eigentlich nicht mehr muss. Und zwar zu dem Zweck, den noch nicht so weit fortgeschrittenen Suchern zur Seite zu stehen. Wobei das WO und WIE getrost dem unfehlbaren Wirken des Karma-Gesetzes überlassen bleiben kann.
Kleines Kesa zum Bodhisattva-Gelübde im Zen-Buddhismus.
Bild: Ko-Sen
Zunächst mag das auf dem ersten Blick abgehoben klingen, abstrakt-mystisch und vor allem vollkommen irreal. Weder ist das Freisein vom Rad der Wiedergeburt in greifbarer Nähe, noch gibt es Grund anzunehmen, man könnte anderen auf ihrem Weg hilfreich sein. Dennoch besitzt das Bodhisattva-Ideal eine sehr reale Wirkung. Vorausgesetzt, man fasst es in seinem esoterischen Sinne auf.
Kleine Ordination
Das Bodhisattva-Gelübde wird vor allem in den zum „Großen Fahrzeug“ (Mahayana) gehörenden buddhistischen Schulen praktiziert. Damit verbunden sind bestimmte äußere Rituale. Im ZEN-Buddhismus heißt die Prozedur „kleine Ordination.“ Der Anwärter hat eigenhändig aus kleinen Flicken eine Art Brustumhang (kleines Kesa) zu sticken. Auf dessen Rückseite dokumentiert ein authentischer Zen-Meister Ort und Datum der Ordination. Der Ordinierte bekommt dabei vom Meister einen buddhistischen Namen verliehen. Das Nähen dauert seine Zeit. Bis zu zwei Wochen. Daher werden Ordinationen oft im Rahmen von Feriencamps angeboten.
Die Vier Großen Gelübde1
Die Zahl der Wesen ist unendlich; ich gelobe, sie alle zu erlösen.
Gier, Hass und Unwissenheit entstehen unaufhörlich; ich gelobe, sie zu überwinden.
Die Tore des Dharmas sind zahllos; ich gelobe, sie alle zu durchschreiten.
Der Weg des Buddha ist unvergleichlich; ich gelobe, ihn zu verwirklichen.
Das Nähen soll Geduld, Ausdauer und Ernsthaftigkeit auf die Probe stellen. Selbstredend hat alles in meditativer Atmosphäre abzulaufen. Die Ordination findet zumeist öffentlich im Rahmen eines feierlichen Rituals statt. Auf das feierliche Gelöbnis, unter anderem nicht eher in das Nirvana einzugehen, bis auch das letzte fühlende Wesen von Rad der Geburt erlöst ist, folgt in der Regel als erlösender Abschluss einer anstrengenden Zeit ein vegetarisches Festmahl.
Unwirklicher Kinderkram – MAYA
Die Ordination ist ohne Zweifel feierlich und erhaben. Nur ob und wie weit sich daraus TATSÄCHLICH irgendwelche konkreten Folgen ergeben bleibt unklar. Das Ego der Persönlichkeit wird möglicherweise etwas gezähmt. Es ist aber auch das Gegenteil denkbar: Ein eitles Aufblähen, nach dem Motto ICH bin jetzt ein Bodhisattva. Das Bodhisattva-Gelübde droht dabei zur ICH-Kultivierung degradiert zu werden. Dabei ist das Bodhisattva-Ideal das GEGENTEIL von Ich-Pflege; es ist vielmehr auf die Überwindung separierender Konzepte, ICH-Konzept inklusive, ausgerichtet. Wer im Rahmen der Unterweisungen zur Ordination Zen-Meister nach Karma und Reinkarnation oder nach der astralen Anatomie des Menschen fragt, wird keine oder ausweichende Antworten erhalten. Auch philosophische Thesen oder Aussagen zur Kosmogonie wird man vergebens suchen.
Shi gu sei gan2
Shu jo mu hen sei gan do
Bon no mu jin sei gan dan
Ho mon mu ryo sei gan gaku
Butsu do mu jo sei gan jo
Das Fehlen weltanschaulicher Konzepte ist einer der Gründe für den Buddhismus-Hype im Westen. Alles ist einerseits so schön anders und doch hinreichend unverbindlich; kurz es passt bequem zu EIGENEN Konzepten. Man kann damit teure Manager-Seminare genauso konzipieren wie nicht weniger teure christliche Selbsterfahrungswochenenden mystisch aufpeppen. Am Ende ist man ruhig, hat erhabene bis glückselige Gefühle, wähnt sich als Manager besser für den Daseinskampf gerüstet und als exaltierter Christ Gott näher. Doch aus Sicht des Buddhismus besitzen äußere Praktiken keinerlei befreiende Wirkung. Sie führen, wenn sie auf das Erzeugen von Gefühlen und Hervorbringen mentaler Wirkungen gerichtet sind, nur zu Anhaftungen. Dabei auftauchende Gefühle, Visionen und Eindrücke sind irreführende Täuschungen (MAYA), die es hinter sich zu lassen gilt.
YOGA DES WISSENS
Wenn in den Büchern über Zen-Buddhismus nichts oder wenig Philosophisches zu finden ist, dann nicht etwa, weil Zen gegen das Streben nach Erkenntnis ist oder nichts davon hält. Richtig ist vielmehr – der Buddhismus hatte die Ausarbeitung einer eigenen Philosophie nie nötig. Denn sowohl in Indien als auch zum Beispiel später in China existierten bereits altehrwürdige ausgereifte Denksysteme zu Philosophie, Kosmogonie und Esoterik: in Indien der Hinduismus, in China der Taoismus.
Bodhisattva-Gelübde der theosophischen Bewegung.
© United Lodge of Theosophists
Seit dem 20. Jahrhundert haben sich im Westen die esoterische und exoterische Seite des Buddhismus voneinander entfernt. Aus gutem Grund distanzieren sich heute Zen-Praktizierende von Spiritisten, Channeling-Fans und Sekten-Jüngern, die fälschlicherweise den Begriff Esoterik für sich vereinnahmen und vor allem auf Phänomene und astralen Nervenkitzel aus sind. Der Buddhimus ist im Westen daher vor allem ein YOGA DER MEDITATION. Wer auf dem Weg des YOGA DES WISSENS ist, muss die verborgene esoterische Seite des Buddhismus, wie sie sich in den Weisheitslehren findet, ergründen.
Seelenfunken wird angesprochen,
nicht die Persönlichkeit
Die als eher unbestimmt wahrnehmbare Wirksamkeit des Bodhisattva-Ideals ändert sich schlagartig, wenn es auf der Basis der Weisheitslehren angenommen wird. In Verbindung mit dem Naturgesetz von Karma und Reinkarnation und dem überlieferten Wissen über die subtile Anatomie des Menschen – seine Chakren, die Kundalini und den Astralkörper – bekommt das Gelübde unmittelbar transformierende Wirksamkeit. Der Seelenfunken wird jetzt angesprochen, nicht die Persönlichkeit. Doch nicht ohne Grund WARNEN die Weisheitslehren vor diesem Prozess der Transformation des ICHs. Die Transformation (auch Transfiguration) der Persönlichkeit ist ein Prozess, den diese notgedrungen als UNANGENEHME und UNBEQUEME Umkehr, hin zum unsterblichen und wahren Ego, empfinden muss. Wer lässt sich schon freiwillig und gern überwinden und umkehren?
Das Bodhisattva-Ideal und das damit verbundene Gelöbnis wurden im Westen übrigens erstmalig im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts von den Theosophen um H. P. Blavatsky bekannt gemacht. Damals waren die esoterische und exoterische Seite des Buddhismus noch eins. Die Einheit ging jedoch mit dem Zerfall der Bewegung Ende des 19. Jahrhunderts verloren. Seitdem müssen die Sucher diese Einheit mühselig und weitgehend auf sich allein gestellt in sich selbst suchen. Eine karmische Konsequenz, die die Meister hinter der theosophischen Bewegung warnend vorausgesagt haben (nachzulesen in den Mahatma-Briefen).
Zuletzt aktualisiert: 05.10.2013 von Heinz Knotek