Mutmaßlichen Bodhisattvas1 der Geschichte auf der Spur
Christliche Mönche standen im 15. Jahrhundert beim Volk in dem Ruf ungebildete Hurenböcke zu sein, die sich gern dem Rausch der Völlerei und Trunksucht ergeben und es sich auf Kosten des eingetriebenen Kirchenzehnten und der Besitztümer der Klöster gut gehen lassen. Anders als etwa in China wäre in Mitteleuropa ein Kloster in abgelegener Höhenlage undenkbar gewesen2.
Relief von Johannes Trithemius; von Tilman Riemenschneider. Foto: CSvBibra/gemeinfrei
Schließlich lag der Schwerpunkt der Klosterbetriebe nicht bei religiöser Disziplin, Enthaltsamkeit und Kontemplation. Außerdem wäre den Mönchen schwer zu vermitteln gewesen, warum sie sich körperlich anstrengende Fußmärsche antun sollten und ein Nachschub an Essen, Trinken und sonstigen „Dienstleistungen“ unnötig zu erschweren sei. Doch dann kam Johannes Trithemius und das zum Augiasstall verkommene Mönchtum wurde mit eiserner Hand reformiert.
Klosterkultur und Mönchswesen –
das mystische Rückgrat von Religionssystemen
Klosterkultur und Mönchswesen bilden das mystische Rückgrat aller Religionssysteme, bei denen spirituelles Erleben und Erwachen vor allem als innerer Prozess der Kontemplation gesehen wird. Damit solche Kontemplationen in Gang kommen und dann gefördert werden können, bedarf es äußerer Rahmenbedingungen. Enthaltsamkeit wird gefördert, in dem man äußere Sinnenreize auf Abstand hält. Innere Stille wird durch eine ruhige Umgebung gefördert. Disziplin in der Meditation und beim Studium der Schriften lässt sich leichter praktizieren in einer Gemeinschaft Gleichgesinnter. Im Hinduismus, Taoismus, Buddhismus und Urchristentum besaß zu Beginn unserer Zeitrechnung daher das klösterliche Leben einen hohen Stellenwert. Die Mönche waren das kollektive gute Gewissen der praktizierenden Laien, also der Mehrheit der Bevölkerung. Noch heute ist es in Ostasien vielerorts Tradition, einen Sohn oder eine Tochter der Familie für ein Leben im Kloster zu bestimmen. Die besitz- und mittellosen Mönche erfahren dabei eine hohe gesellschaftliche Anerkennung und Wertschätzung.
Als am 1. Februar 1462 im Moseldorf Trittenheim kleinen Winzersleuten ihr Sohn Johannes geboren wurde, ist im christlichen Mitteleuropa von der urchristlichen Klosterwürde wenig übrig geblieben. Es gibt ein dichtes Netz von Klosteranalagen. Doch deren oft sogar des Lesens und Schreibens unkundige Bewohner haben mit Enthaltsamkeit, Meditation und Disziplin wenig am Hut. Das einfache Volk ist auf Kuttenträger schlecht zu sprechen. Mönche gelten als arbeitsscheue Schmarotzer, die auf Kosten der ohnehin armen Landbevölkerung ein Leben in sündigem Saus und Braus führen. Wasser predigen und Wein trinken – dieses geflügelte Wort hat seinen Ursprung in dieser Zeit.
Für den Niedergang der Klosterkultur kann natürlich der urchristliche mystische Gedanke der Gottfindung nichts. Und so tauchen in den Jahrhunderten aus dem Nichts immer wieder aufrichtige Christen auf, die sich dieser Tradition innerlich verbunden wähnen und zugleich berufen fühlen, sich dem Niedergang des Glaubens entgegenzustellen. Die tiefe, durch nichts zu erschütternde, Gottesfürchtigkeit ist eine karmische Mitgift, ähnlich wie das unerklärliche Talent des musikalischen Genies. In früheren Inkarnationen vorbereitet und mit Hingabe gelebt, kommt der Impuls im materiellen Dasein erneut zum Wirken.
„Bodhisattva Trithemius“ hatte sich für diese Geburt einen optimalen Zeitpunkt ausgesucht. Zwar war der Glauben am Boden, die christlichen Orden und Klöster waren mehr Wirtschaftsunternehmen als Orte der Einkehr und zudem tief verstrickt in der weltlichen Machtordnung. Doch in Rom hatte ein Humanist, Enea Silvio Piccolomini, den Papstthron bestiegen. In Deutschland war bereits drei Jahre vor Trithemius der „Erzhumanist“ Konrad Celtis geboren worden. Und der „größte und originellste Denker seines Jahrhunderts lebte noch, Nikolaus von Cues, ein Sohn des Mosellandes, wie Johannes Trithemius, der ihn zu Lebzeiten an Ruhm vielleicht noch übertroffen hat3.“ Die Zeichen standen also auf Neubeginn.
Rational nicht erklärbare Liebe zur Wissenschaft
Für eine „bewusste“ Inkarnation, mit dem Ziel, Impulse für eine spirituelle Reform des geistigen Lebens in einer Zeit des geistigen Niedergangs zu setzen spricht unter anderem, dass Johannes ohne viel Umschweife den Weg seiner Berufung fand. Obwohl in einer „bildungsfernen“ Zeit und in einfachsten Verhältnissen aufgewachsen, verspürte er schon als Jugendlicher eine rational nicht erklärbare Liebe zur Wissenschaft. Mit 15 Jahren erbat er sich nach expliziten Traumvisionen von Gott nichts Geringeres als die innige Kenntnis der hl. Schrift, die damals noch nur der Priesterkaste vorbehalten und deren Text lediglich in lateinischer Version verfügbar war.
Dann eines Nachts erschien ihm ein hell gekleideter Jüngling im Traum, in den Händen je eine Tafel haltend, eine mit Schriftzeichen, die andere mit Bildern. Johannes wählt die Tafel mit den Schriftzeichen. Wenig später bekommt er Gelegenheit Schreiben und Lesen zu lernen. Der Überlieferung nach konnte er nach einem Monat deutsche Bücher lesen, „zum Erstaunen seines Lehres, der erklärte, er habe bei noch keinem Menschen eine solche Auffassungsgabe und ein so lebhaftes Gedächtnis vorgefunden4.“ Dann geht es sehr schnell: Mit Anfang 20 – also am Ende seines dritten Sieben-Jahres-Rhythmus – legt er im Benediktinerkloster Sponheim das Mönchsgelübde ab. Wenig später wird er Abt des Klosters. HEINZ KNOTEK
(wird fortgesetzt)
- Bodhisattvas sind – vereinfacht ausgedrückt – große Seelen (Sanskrit: maha atma) die im Laufe ihrer Inkarnationen den astralen Zwang zur Reinkarnation überwunden haben, jedoch freiwillig eine Inkarnation annehmen, um vor Ort den fühlenden Wesen auf die eine oder Weise praktische Impulse für ein spirituelles Leben zu geben. Aus „Sicherheitsgründen“ müssen sie dabei ihre noble Herkunft vorübergehend vergessen. Ihr Wirken kann auf allen gesellschaftlichen Ebenen stattfinden. Laut Weisheitslehren kann es auch zu einer „Überschattung“ eines Menschen durch einen Bodhisattva kommen. Der gegenwärtige Dalai Lama gilt als inkarnierter Bodhisattva. ↩
- Der Ruf eines buddhistischen oder taoistischen Klosters steht bei den Praktizierenden in China bis heute um so höher, je abgelegener und – wenn möglich – je höher es liegt. ↩
- Klaus Arnold, JOHANNES TRITHEMIUS, Würzburg, 1991 ↩
- ebd. ↩
Zuletzt aktualisiert: 30.01.2011 von Heinz Knotek