Vom Aufwachen am Morgen bis zum Einschlafen nachts ist das Sein wie eine Art Dauerfilmvorführung. Man hat sich daran gewöhnt. Und wenn die Leinwand gerade einmal weiß ist, eine Pause entsteht, wie wenn jemand eine neue DVD nachladen muss, dann empfinden wir das als störend. Und flugs wird das Radio angeschaltet oder man nutzt das „Loch,“ um etwa jemanden anzurufen und ihn zu fragen, wie es ihm geht. Dieser für das Informationszeitalter typische Lebensstil signalisiert Freiheit, Vitalität, Aktivität, Leben. In Begriffen spiritueller Alchemie ist es jedoch das Gegenteil: Bindung, Zwanghaftigkeit, Abhängigkeit, Tod. Demnach führen wir ein Leben wie im Spiegel. Alles ist genau verkehrt herum. Und niemand bemerkt es.
Licht im Spiegel ist für das physische Auge schwarze Leere. Erst Verunreinigungen – Objekte -, die sich zwischen Licht und Spiegel befinden, machen es im Außen erkennbar. Doch das ist nicht das Licht selbst.
Bild: Ko-Sen
Der Illusion des spiegelverkehrten Lebens auf die Schliche zu kommen, ist de facto ein gesellschaftlich geächtetes Anliegen. Das Kirchenchristentum ruft sofort lauthals, „VORSICHT, SEKTE!“ Zum Glück nur das; noch vor 400 Jahren würde die Inquisition ihre Folterknechte losschicken, um den Nachdenker zur „Befragung“ abzuholen. Doch auch der Materialismus-Gläubige, der jeden sonstigen Glauben als Aberglauben herabwürdigt, fühlt sich gestört und ist folglich verärgert. Er wird Vorwürfe erheben, man sei zynisch, assozial, lebensfeindlich.
Wem das repetitive Abspulen der immer selben Gewohnheiten trotz aller Versicherung der Artgenossen, es sei gut so und Gottes ausdrücklicher Wille, spanisch vorkommt, wird fast unmittelbar eine Art mentaler Aussätziger (Outcast). Freunde und Kollegen finden es gar nicht witzig, wenn man ihnen sagt, sie würden eigentlich eine Form von Irrtum leben; und sowieso ist das, was sie ständig von sich geben eher belanglos und leer. Das ist eine der ersten Prüfungen auf dem Pfad…
Johann Daniel Mylius, Philosophia reformata, 1622 – Emblem zur Geduld. Abb.: Privatbesitz
Bis sich neue Verbindungen im Außen ergeben, bis die INNERE STIMME DER STILLE einigermaßen konkret wahrnehmbar ist, bis man sich so weit sensibilisiert und ernüchtert hat, dass man für die subtilen Energien hinter den materiellen Erscheinungen etwas empfänglich geworden ist; bis dahin also muss man Geduld haben. In der westlichen Alchemie wird dazu das Emblem des abtauchenden Königs verwendet. In der Alchemie des Taoismus, insbesondere der Schule der vollkommen Wirklichkeit (Complete Reality School, engl.; Ch’uan-chen, chin.). werden vor allem Unterweisungen von Suchern zitiert, die einst das Werk vollendet haben und in die Unsterblichkeit eingegangen sind. Also in anderen Worten – die SELBSTBEWUSST SIND, ohne dazu in einem Körper gebunden zu sein.
Einer der wichtigsten Klassiker ist dabei das Werk DIE WIRKLICHKEIT VERSTEHEN (Understanding Reality, engl.; Wu Chen P’ien, chin.) von Chang Po-tuan (983 – 1082). Nachfolgend Auszüge aus dem Kapitel 60, das sich besonders der verkehrten Sichtweise des Lebens annimmt. Die Übersetzung aus dem Chinesischen ins Englische stammt von Thomas Cleary.
On stopping machination
Über das Aufhören mit den Tricks
Students’ failure to understand the Tao and attain the Tao is all due to instability of mind and insubstantiality of approach. If you succeed in emptying all objects, being aloof of everything, reducing and reducing until you reach nondoing and your heart is clear and calm, then the inner work is done. When you then go on to build up virtue and cultivate action, taking hardship on yourself for the benefit of others, doing what is nesessary in each situation, uneffected by wealth, poverty, authority, or power, walking the earth unattached, passing the days according to conditions, all psychological afflictions gone, then the outer work is done.
…
Not a mot of dust is to be allowed into the human mind; as soon as there is any defilement, essence and sense do not join, the dragon and tiger are out of harmony, and various ills occur…
But worldly people do not see through things of the world; accepting unreal nature and life, they are attached to their spouses and children and do not sever the bonds that entangle them (*). Expending all their mental potential, when the oil is exhausted the lamp goes out, when the marrow dries up the person dies. What a pity.
Quelle: UNDERSTANDING REALITY, A Taoist Alchemical Classic by Chang Po-tuan, with a concise commentary by Liu I-ming, translated from Chinese by Thomas Cleary; Honolulu, 1987
(*) Anmerkung: Damit ist natürlich NICHT gemeint, man solle etwa seine Kinder im Stich lassen oder familiäre Verpflichtungen ignorieren. Der Bezug richtet sich ausschließlich auf die mentale und emotionale Haltung. Demnach ist es eine Bindungen auslösende Anhaftung, wenn man zum Beispiel eigene Kinder als eine Art Besitz ansieht. Wahre Liebe ist frei von Besitzdenken und altruistisch. Daher ist das Meiste, was wir als „Liebe“ bezeichnen, eher eine Art gewohnheitsmäßiger egoistischer Besitzanspruch. Dasselbe gilt bei Partnerschaften. Die WIRKLICHE Partnerschaft ist eine Seelenverbindung. Das physische Drumherum, das normalerweise im Vordergrund steht, ist eher Nebensache.
Zuletzt aktualisiert: 08.06.2008 von Heinz Knotek