Einen eigenen redaktionellen Schwerpunkt hat neulich eine große deutsche Tageszeitung dem Phänomen Anthroposophie gewidmet1. Dabei fanden auch die eigentlichen Wurzeln der anthroposophischen Bewegung eine angemessene Würdigung. Anthroposophie ist Rudolf Steiner. Die Wurzel von Steiners Thesen jedoch sind die uralten und zeitlosen Weisheitslehren, die im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts durch Helena Petrovna Blavatsky, William Quan Judge und Henry Steel Olcott einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurden.
Motto der Theosophie des 19. Jh.: Es gibt keine höher stehende Religion als die Wahrheit.
Nach dem Weggang von Blavatsky (1891) und Judge (1896) versank die Theosophie jener Zeit „bald in einem argen Mummenschanz2.“ Jenen Mummenschanz haben selbst ernannte Nachfolger von Blavatsky und Judge zu verantworten. Bis heute fehlt eine selbstkritische Aufarbeitung dieser Fehlentwicklung durch jene Gruppen, die sich unverändert auf jene „Nachfolger“ berufen.
Theosophie Blavatskys als friedliche Lehre gewürdigt
Die Theosophie Blavatskys wird in dem Zeitungsbericht als eine friedliche Lehre gewürdigt, die mit ausgeprägtem Ekklektizismus den metaphysischen Bedürfnissen jener Zeit zu entsprechen suchte3. Blavatsky selbst sah sich als Sendbotin eben jener Weisheitslehren und sie begründete auch, warum sie ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt gesandt werden musste. Um 1875 befand sich der westliche Kulturkreis am Vorabend der industriellen Revolution. Mit einem modernen „Reloading“ der schon von Jakob Böhme erwähnten THEOS-SOPHIA (göttliche Weisheit) sollte dem zu erwartenden krassen Materialismus zum Ausgleich ein spiritueller Gegenpol zur Seite gestellt werden, zumal das im Dogma erstarrte Kirchenchristentum jener Zeit zunehmend die Bedeutung als spirituelle Instanz eingebüßt hatte.
Während Steiners Anthroposophie esoterisch eine semichristliche Mystik verkündet und exoterisch4 ganz dem astral-materiellen Sein zugewandt ist, ist die Theosophie Blavatskys eine Art esoterischer Buddhismus. Exoterisch an den Kernlehren des Buddhismus – den „vier edlen Wahrheiten5“ und dem „achtfachen Pfad6“ – ausgerichtet, verkündet sie thesenhaft ein esoterisches Paradigma, von der Anhänger ausdrücklich aufgefordert werden, die Plausibilität und wissenschaftliche Methode für sich selbst zu verifizieren.
Die Theosophie hat vor allem avantgardistische Künstler inspiriert, etwa das frühe Bauhaus; hier das rekonstruierte Bauhaus-Gebäude in Dessau-Roßlau. Foto: Detlef Mewes
Mit drei grundsätzlichen Zielen hat die Theosophie jener Zeit ein ideelles Leitbild entworfen, das den bis dahin (und bis heute) unüberbrückbaren Graben zwischen religiösem Dogmatismus und Aberglauben einerseits und rationaler Wissenschaft andererseits zusammenführen sollte.
The Objects of the Theosophical Movement
- To form a nucleus of the Universal Brotherhood of Humanity, without distinction of race, creed, sex, caste, or colour.
- The study of ancient and modern religions, philosophies and sciences, and the demonstration of the importance of such study.
- The investigationof the unexplained laws of Nature and the psychical powers latent in man7.
Ihrem Wesen nach war Blavatskys Theosophie eine dem BodhisattvaIdeal8 folgende Mystik kombiniert mit einer Erkenntnistheorie, bestehend – gemäß GEHEIMLEHRE9 – aus Kosmogonie und Anthropogenese. Wie schon bei Jakob Böhme sollte die „göttliche Weisheit“ den Menschen als geistiges Wesen inspirieren, sich von seinen Bindungen an die materielle Persönlichkeit selbst zu erlösen – zeitgemäß durch Erkenntnisgewinnung und eine von Enthaltsamkeit, Mitgefühl und Altruismus geprägte Lebenshaltung. Es ging also ausdrücklich nicht darum, es sich auf Erden mit magisch aufgepeppten biodynamischen Lebensmitteln gut gehen zu lassen, sondern um das Anhaften am „Sichgutgehenlassenwollen“ zu überwinden, und zwar für immer und zum Wohle aller fühlenden Wesen. HEINZ KNOTEK
- Süddeutsche Zeitung, Samstag, 26. Februar 2011 ↩
- Ebenda; Thomas Steinfeld: DAS BUNTE GENIE ↩
- ebenda ↩
- Exoterik gemäß griechischer Tradition: (von ἐξωτερικός „äußerlich“, „ausländisch“) bezeichnet die nach außen gewandten Aspekte einer Philosophie oder Religion, im Gegensatz zu nur einem inneren Kreis zugänglichen esoterischen Aspekten. ↩
- Vier edlen Wahrheiten:
(1) Das Leben im Daseinskreislauf ist leidvoll.
(2) Ursachen des Leidens sind Gier, Hass und Verblendung.
(3) Erlöschen die Ursachen, erlischt das Leiden.
(4) Zum Erlöschen des Leidens führt der achtfache Pfad. ↩ - Der achtfache Pfad des Buddhismus:
(1) rechte Einsicht, rechte Anschauung, rechte Erkenntnis
(2) rechte Gesinnung, rechte Absicht, rechtes Denken, rechter Entschluss
(3) rechte Rede
(4) rechtes Handeln, rechte Tat
(5) rechter Lebenserwerb, rechter Lebensunterhalt
(6) rechtes Streben, rechtes Üben, rechte Anstrengung
(7) rechte Achtsamkeit, rechtes sich Erinnnern, rechte Bewusstheit
(8) rechte Sammlung, rechtes Sichversenken, rechte Konzentration ↩ -
- Den Kern einer universellen Bruderschaft der Menschheit bilden, ohne Unterschied von Rasse, Farbe und Glauben.
- Die Förderung des Studiums der überlieferten und zeitgenössischen Religionen, Philosophien und Wissenschaften und das Vermitteln der Bedeutung solcher Forschungen.
- Die Erforschung der bislang unerklärten Geheimnisse der Natur und des latenten psychischen Potentials des Menschen
- Bodhisattva-Ideal ↩
- Die GEHEIMLEHRE (The Secret Doctrin) ist das Haupt- und Standardwerk der Theosophie von Blavatsky; The Secret Doctrin – Download for free ↩
Zuletzt aktualisiert: 30.06.2011 von Heinz Knotek